Hamlets Spiegel oder einige Überlegungen zum Theater

Grafik Baptiste Hersoc, https://www.baptistehersoc.com

Wir bilden uns, gehen in Schulen, die Universität, werden Handwerker oder Spezialisten für dieses oder jenes, gründen Familien, erziehen wiederum unsere Kinder, geben weiter, woran wir glauben und was wir erlernt haben und so immer fort.
Wir wurden auf unserem langen Weg eingezwängt in Verhaltens-, Höflichkeits-, Denkmuster. Wir fühlen uns verbogen, getrennt von unserem Ursprung. Wir sehen eine Welt in Konflikten. Eine Rebellion  bleibt nicht aus.
Meist sind die Rebellen Künstler. Kunst wird zum politischen Tätigkeitsfeld. Der empfundene Zwang, die als ungerecht erkannten gesellschaftlichen Verhältnisse, der geselschaftliche Umbruch geben Stoff aus dem die Aufführungen und Perfomances sind. Die Gesellschaft der Künstler spiegelt die Gesellschaft und hält ihr den Spiegel vor. Bühne – Spiegel – Zuschauer, sie befinden sich auf einer horizontalen Linie, auf Augenhöhe.

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Einen kleinen Einschub brauch ich jetzt: Die Wissenschaft hat eine für uns Theaterleute wirklich wichtige Erkenntnis gewonnen. Es gibt Spiegelneuronen, ein Resonanzsystem im Gehirn eines jeden Menschen, das Gefühle und Stimmungen des Gegenübers beim Empfänger zum Erklingen bringt. Das Einmalige an diesen Nervenzellen ist, dass sie bereits Signale aussenden, wenn jemand eine Handlung nur beobachtet. Die Nervenzellen reagieren genau so, als ob man das Gesehene selbst ausgeführt hätte. Am besten ist ein Vergleich aus der Musik: Wenn wir eine Gitarrensaite zupfen, bringen wir die anderen Saiten des Instruments auch zum Schwingen, wir erzeugen eine Resonanz. Mitgefühl, Freude, aber auch Schmerz und Wut zu empfinden, ist dadurch erst möglich.
Wird also eine Handlung auf der Bühne vollführt ist es tatsächlich so, dass unsere Spiegelneuronen das Geschehen so erleben, als ob sie es selbst vollzögen. So wird klar, dass ein horizontaler Spiegel zwischen Zuschauer und Bühne horizontale Vermittlung leistet.

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Tatsächlich war es diese „horizontale“ Herangehensweise im Theater, die mir als junge Schauspielerin  zu schaffen machte. Intuitiv fehlte mir etwas.

Durch die Arbeit an den Dialogen von Platon, was eine spezifische russische Methodik und Schule ist,  wurde ich gezwungen aus einem situativen Spiel herauszutreten und andere Quellen meiner selbst zu öffnen. Das war schmerzhaft und schwierig, trocken, unsinnlich und schwer – lange Jahre. Doch später wurde  die sogenannte Ideenwelt des platonischen Denkens  nicht mehr nur eine abstrakte oder rein ideelle Welt, sondern wandelte sich in eine Empfindsamkeit, in der persönliche Verbindungen und poetische Bilder ein Leben entwickelten, aus dem heraus der Künstler auf der Bühne handeln konnte. Nicht mehr die Situation lenkte mich, sondern mein „Obraz“(Bild): dasjenige poetische oder krasse Bild, das die Essenz der Hauptidee birgt. Eine Entdeckung, die Zeit brauchte, Elan, Einsatz.
Ein Abenteuer, eine Revolution des eigenen Instrumentes.

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Nun nocheinmal zurück zu den Spiegelneuronen. Was daran für das Theater so immens interessant und wichtig ist, ist, dass der Spiegel durch die Arbeit mit dem „Obraz“ als Quelle der Aktion seine Position verändert.
Der berühmte Satz des Hamlet: der Gesellschaft den Spiegel vorhalten zu wollen, wird meistens horizontal verstanden wie zu Beginn beschrieben.
Doch stellen wir uns vor,  der Spiegel wäre zwischen Sonne und Zuschauer, zwischen Himmel und Erde positioniert, so bedeutet das, dass der Schauspieler gleichsam zum Spiegel wird und derjenige ist, der den Sonnenstrahl einfängt und abgibt. Der Spiegel ist in einer vertikalen Position. Dann handelt es sich um ein vollkommen anderes Theater.

Der Zuschauer sieht durch den Spieler die Reflektion der „Sonne“ auf der Bühne; der Schauspieler arbeitet mit einem Obraz, das sich nicht nur aus der Horizontalen speist, sondern vor allen Dingen aus einer vertikalen Perspektive. Die vertikale Perspektive enthält Immanenz und Transzendenz.  Der Mensch ist nicht in sich gespalten, sondern hat die Freiheit der Wahl.  Der Spieler hat sein Zentrum nicht im Innern, sondern vor sich, bewegt es wie einen Fussball. Seine Leiden sind nicht Wutausbruch oder andere aus der Situation heraus gestaute Gefühle, sondern sein Leiden ist Abwesenheit der dialektisch ergänzenden Perspektive.

Das Theater, das den Spiegel vertikal ausrichtet ist so gesehen ganzheitlicher. Natürlich können genauso Gefühle, Atmosphäre und ein sinnliches Erleben vorhanden sein, – ja sie müssen es sogar. Jedoch wird der Zuschauer nicht in Gefühle verstrickt und verführt, sondern er wird aktiviert sich selbst als Mensch in seiner Verantwortung zu erleben. Es traut dem Menschen mehr zu als der horizontale Spiegel mit seinem Narrativ des Gefangenseins im politischen und gesellschaflichen Kontext. Es weitet den Blick. Brauchen wir nicht  einen weiten Blick? Wir brauchen beides, aber ganz sicher auch einen weiten Blick, um die Krise, in der sich die Menschheit befindet immer besser zu verstehen und aufzulösen….

Berlin, 2023

Judith

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Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sie macht sichtbar (Paul Klee)

Zeitdokumente – Ansichten im Wandel der Zeit (2010)

Ich gehe gern ins Theater, weil….

Mir fehlt im Theater, dass..

Die meisten von uns haben die Erfahrung gemacht, dass alte und neue Musik, Malerei und Skulptur etc. heute  wie eh und je eine geistige und emotional stimulierende Wirkung auf den Zuhörer/ Betrachter haben, das erfährt man ganz direkt am eigenen Leib. Eine intensive Erfahrung.

Die zeitgenössische Kunst will aufdecken, sichtbar machen, was sich versteckt. Aber welche Realität wird sichtbar gemacht? Eine fundamentale Frage. Im Theater- wo zumeist immer noch auch gesprochen wird – scheint es viel schwieriger zu sein, zu entscheiden, um welche Wirkung es gehen soll, da das Wort ausspricht, was wir in der Malerei oder der Musik nur sehen, empfinden oder hören. Tendenziell werden Antworten geliefert von der Bühne zum Zuschauer. Wir ziehen gedanklich unsere eigenen Schlüsse, wir sind frei in der Interpretation und ob wir die Antwoten annehmen oder nicht. Wir bilden uns eine Meinung.
Um den immer wieder gleichen Geschichten der klaasichen Literatur zu entkommen, gibt es die Tendenz auf das Wort weitgehend zu verzichten oder es zu reduzieren, oder zu bebildern und zu illustrieren. Oder es im Spiel nüchtern oder schreiend heraus zustoßen, um neuen Sinn zu öffnen. Es entsteht eine Wirkung, die man mit Schock bezeichnen kann. Das ist an und für sich nichts Neues, denn in alten Zeiten war das die Katharsis.

Ein routiniertes Museumstheater ist unerträglich, selbstverständlich. Es hat ausgespielt, Deklamation als Sprachgestus kann man nicht mehr ertragen. Mit Recht sucht man sehr dringend Alternativen, Innovation ist der künstlerische Motor seit Jahren. Aber was bedeutet Innovation in der Tiefe? Was ist ein kathartischer Schock? Wird der Schock selbst zur Mode und verliert so seine Wirkung und wird letztendlich zu einem opportunistischen Akt? Wird vielleicht nur an der Oberfläche gesucht? Oder nur in der Form? Alte Tragödien und dramatische Stücke werden als Assoziationsmaterial genutzt, um neue Sinnbezüge herzustellen, sie werden dekonstruiert oder nur bebildert, sie werden im Alltagsrealismus verortet, um das heutige politisch-gesellschaftliche Leben zu beleuchten; es passiert auch, dass alte Vorlagen in öffentlichen Diskussionen geschmäht werden als langweilig und zum 1000 sten Mal gespielt, sie sind es wert in den Müllhaufen der Theatergeschichte geworfen zu werden. Sie sagen uns heute nichts mehr. Denn wer will schon wieder einen neuen Hamlet sehen?
Aber ist ein Text nur Buchstaben, die auf weißem Papier gedruckt sind? Nein, deswegen muss diesen Buchstaben im Spiel ja Leben eingehaucht werden. Aber welches Leben? Welcher Mensch steht auf der Bühne? Einer, der Sinn durchdrungen hat oder einer, der Marionette eines Konzepts ist?
Konzepte sind immer subjektiv. Die Frage, die sich stellt ist, gibt es etwas objektives? Versteckt sich hinter den Worten ein unsichtbarer Text, der nicht ohne weiteres sichtbar ist, eine zweite Ebene? Und ist nicht eigentlich das das Innovative, diese zweite Ebene zu erkennen und für unsere heutige moderne Zeit aufzudecken? Die russische Schule verortet etwas Objektives in einem dramatischen Werk – die Transversalaktion. Ohne sie können wir das Werk nicht ergründen, nur interpretieren. Zwei grundsätzlich verschiedene Wege.

Das Theater wird zum Spiegel der Gesellschaft – anything goes. Sinn, Leben, Kunst ein Spielball. Und was wird dabei aus dem Menschen, der doch im Zentrum des Theaters steht? Er wird zu einem Hampelmann. Gefühllos, kalt, egoistisch, er ist ein Gefangener seiner Triebe und Zwänge. Wahrscheinlich ist er das auch! Theaterrealität spiegelt die Lebensrealität eins zu eins. Das ist eine Tatsache, ein Aspekt von LebensRealität –  Aber die einzige?

Weht uns aus diesem antiquierten Haufen der dramatischen Stücke nicht ein universeller Geist an, der den Menschen in seinen kosmischen Zusammenhang stellt? Ein Zusammenhang , den wir vollkommen verloren zu haben scheinen.

Was für ein Menschenbild kreiert das Theater….? Verweist es auf den Hampelmann oder den fähigen Menschen? Welchen Spiegel will es vorhalten? Ist der Fähige ein Ideal oder genauso Tatsache wie der Unfähige und Unvernünftige?

Neulich sah ich einen Bericht über Gärten in Berlin. Eine alte Bosnierin, ein Kriegsflüchtling, die am Gleisdreieck Gemüse pflanzt sprach: in Bosnien ist Erde, hier ist Erde, dort hatte ich meinen Garten, hier habe ich eine Garten, Erde ist Erde. Ich bin froh.

Eine Fähige.

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Erfahrungsbericht über die russische Pädagogik nach Anatolij Vassiljev

DIE „SCHULE DER DRAMATISCHEN KUNST“ VON A. VASSIlJEV

und der Unterschied zur Schauspielausbildung in Deutschland

ein ehemaliger Teilnehmer berichtet:

Dieser Artikel geht größtenteils auf Erfahrungen zurück, die ich einerseits in Gesprächen mit Anatolij Vassiljev – Gesprächen über das Theater im Allgemeinen und über sein Verständnis von Theater – und andererseits im direkten Teilnehmen am Leben und Wirken der „Schule der dramatischen Kunst“ in Moskau während der letzten fünf Jahre gewonnen habe.

Die,“ Schule der dramatischen Kunst” in Moskau, die von Anatolij Vassiljev gegründet wurde und weiterhin geleitet wird, ist eine Art Zwitter.- sie ist gleichzeitig ein Theater und eine Theaterschule. Das ist der grundlegende Baustein, den man immer im Auge behalten muß und der sich auf jeden Aspekt der pädagogischen Tätigkeit und des Lebens der „Schule“ auswirkt, wie das Ziel der Studienkurse, ihre Strukturierung, die Auswahl der Studienfächer.

1) DER PÄDAGOGISCHE WEG ZUR BILDUNG DES THEATER-ENSEMBLES.

Beginnen wir mit den künstlerischen Zielen des Studienkurses. Die erste Zielsetzung des Studienkurses in der „Schule der dramatischen Kunst“ ist es, ein Ensemble zukünftiger Schauspieler des Theaters „Schule der dramatischen Kunst“ heranzubilden.

Der hierin zum Ausdruck kommende Pragmatismus sollte nicht erschrecken. Er ist Bestandteil einer alten Tradition der russischen Theater-Pädagogik, man denke nur an das Schicksal des Zweiten Studios des Theaters der Kunst in Moskau, das fast vollständig 1924 der Haupt- Truppe eingegliedert wurde, oder man denke daran, daß es heute noch, beim Mchat oder beim Vachtangoff-Theater, Institute für Theater- Ausbildung gibt, die unter anderem auch die Funktion haben, [31 den jungen Nachwuchs „heranzuziehen“. Diese „zielgerichtete“ Tradition ist im Bereich der russischen Pädagogik noch wichtiger geworden, seit in den 70-er Jahren (auf Vorschlag und Ausarbeitung von Andrej Gonkaroff, Chef-Regisseur des „Majakowskij“-Theaters in Moskau, dem der Regie-Kurs im GITIS – in der Staatliches Institut für Theaterkunst – anvertraut gewesen war) zunächst in Moskau, dann in Leningrad und schließlich in anderen Instituten zur Theater-Bildung in der UdSSR die Kurse zur Regie-Ausbildung mit denen zur Schauspiel-Ausbildung zusammengeschlossen wurden. Das weitverbreitetste Ergebnis dieser Operation war, die Leitung der Kurse für Schauspieler den wichtigsten Regisseuren und Künstlerischen Leitern der größten Theater anzuvertrauen (bisher war ihnen nur die Leitung der Regiekurse anvertraut worden) und Schauspieler aus der Leitung der Kurse auszuschließen. Diese Situation hat sich bis heute nicht verändert und in den meisten Fällen sind es in der russischen Theater-Lehre die Regisseure, die die Schauspieler erziehen. Diese Veränderung hatte zur Folge, daß seit damals der pädagogische Weg für die Schauspieler auch einige „Gebrauchsanweisungen“ für eine besondere Sprache und bestimmte Arbeitsmethoden einschloß, d.h. eine Sprache und Arbeitsmethoden, die dem Stil des den Kurs leitenden Regisseurs entsprechen. Die Schauspieler werden also während ihrer Ausbildung auch darauf vorbereitet, im Stile jenes Theaters zu arbeiten, an dem sie am Ende ihrer Studien engagiert werden sollen. Es sind hier zwei Beispiele zu nennen für diese Art Interaktion zwischen Regisseuren und Schulen, die dem italienischen Zuschauer bekannt sind, einmal das Malyi Dramaticeskij Teatr von Lev Dodin, dessen Truppe fast ausschließlich aus ehemaligen und derzeitigen Schülern von ihm besteht (Dodin lehrt am Theater-Institut in Sankt Petersburg), und zum zweiten das „Laboratorium“ (41 des moskovitischen Regisseurs Fomenko, dessen Schauspieler seine eigenen ehemaligen Schüler sind, die alle aus einem Kurs hervorgegangen sind (Fomenko lehrt an der Russischen Akademie für Theaterkunst in Moskau). Die „Schule der dramatischen Kunst“ in Moskau ist daher keine Ausnahme, ganz im Gegenteil … ! Die unmittelbare Nähe von Schule und Theater in einer einzigen Institution unterstreicht diesen „zielgerichteten“ Aspekt.

Worum es der „Schule!‘ geht, wird bereits deutlich in der Art und Weise der Auswahl von Schauspielern, die an einem Kurs teilnehmen wollen. Die Schul- Struktur sieht vor, daß am Ende nicht nur potentiell gute Schauspieler zugelassen werden, sondern künstlerische Individuen, die zusammen ein kompaktes Theater-Ensemble bilden können: das zukünftige (oder ein zukünftiges) Ensemble des Theaters „Schule der dramatischen Kunst“. Betrachten wir also zunächst das Auswahlverfahren, bevor wir uns dem weiteren Verlauf zuwenden, und seine Bedeutung für den pädagogischen Weg der Schüler, für das Leben der „Schule“ und für die künstlerische Zielsetzung.

2) DAS AUSWAHLVERFAHREN /DIE WAHL DER SCHÜLER

Das Auswahlverfahren ist in mehrere Abschnitte unterteilt. 1991 fand in Rom ein Auswahl-verfahren  statt, um für das Gemeinschafts-Projekt „jeder nach seiner Art“ die Teilnehmer zu bestimmen; dieses Verfahren unterschied sich in seiner Beschaffenheit grundlegend nicht von dem in Rußland an der „Schule“ angewandten. Ich konnte diesem Auswahlverfahren persönlich beiwohnen. Der erste Abschnitt war zwei Pädagogen aus der „Schule der dramatischen Kunst“ anvertraut, die ungefähr 200 Schauspieler antrafen. (Ich werde von hier an für die Lehrer, die mit Vassiljev arbeiten, und für Vassiljev selbst, den Begriff USI „Pädagoge“ anwenden, der die direkte Übersetzung des russischen pedagog ist. Das Wort ähnelt prepodavatel‘- Lehrer, hat aber eine andere Bedeutung. Der pedagog beschränkt sich nicht darauf, eine theatralische Technik zu lehren: er erzieht, er formt die künstlerische Persönlichkeit des Schülers und er ist moralisch für dessen berufliches Ethos verantwortlich). Im Laufe dieser Proben mußte jeder Schauspieler einem der Pädagogen ein Stück in Versen, ein Stück aus einer Komödie und ein Stück aus einer Tragödie vorsprechen. Fast immer fand auch ein Gespräch statt, das vor allem zum gegenseitigem Kennenlernen und zum Meinungs-Austausch über Kunst dienen sollte. Die Pädagogen wählten 40 Schauspieler aus, die dann alle zusammen erscheinen mußten und die Aufgabe erhielten, aus Heute abend wird aus dem Stegreif gespielt ohne Hilfe Szenen vorzubereiten und vorzuspielen (mit nicht mehr als 4 Personen). Die Schauspieler sollten sich ihre Partner allein aussuchen und hatten einen Tag zur Vorbereitung zur Verfügung. Von diesem Abschnitt des Auswahlverfahrens an wurden die Proben immer in Anwesenheit sowohl der Pädagogen Vassiljevs als auch der anderen Schauspieler abgehalten. Auf der Grundlage dieser Szenen fand eine weitere Auswahl statt, die 2 8 Teilnehmer bestanden. Am nächsten Morgen erhielten die noch verbliebenen Schauspieler die Aufgabe, einige Szenen aus den“Intermezzi im Foyer” aus Heute abend wird aus dem Stegreif gespielt vorzubereiten (es handelt sich dabei um die fünf Szenen zwischen dem zweiten und dem dritten Akt; während des Bühnen-Umbaus läßt Pirandello seine Schauspieler-Personen im Foyer unter dem Publikum spielen). Zur Vorbereitung hatte der Schauspieler nur eine knappe Stunde zur Verfügung und war so gezwungen, auf die Bühne zu gehen, ohne den Text auswendig gelernt zu haben: auf diese Weise wurde der Kandidat seiner „Sicherheit“ beraubt und zum Improvisieren gezwungen, er mußte sich entblößen und seine Persönlichkeit zeigen.

Danach wurde die Aufgabe gestellt, einen Monolog vorzubereiten und darzubieten, der sich am Schlußmonolog Momminas orientiert. Das heißt, der Schauspieler mußte die Struktur und die Bedeutung jenes Monologs nachvollziehen, dabei aber die Original-Erzählung Momminas mit einer von ihm erfundenen Erzählung (und improvisiertem Text) ersetzen, wobei diese – nach Meinung des Schauspielers – konzeptionell und emotional der Erzählung Momminas entsprechen sollte. Dann wurden die Schauspieler für den folgenden Tag bestellt, an dem jeder einen selbstgewählten Monolog vorführte, an Improvisations-Trainings teilnahm und Fragen Vassiljevs beantwortete, die sich bezogen auf ihre künstlerischen Neigungen, auf schon gespielte oder gern zu spielende Lieblingsrollen usw. Abends dann wurden die Ergebnisse bekanntgegeben: 17 Schauspieler waren ausgewählt worden. (Es gibt eine Video-Aufzeichnung dieses Auswahlverfahrens : ein Dokumentarfilm unter der Regie des Journalisten Nico Garrone und produziert von RAI 3, mit dem Titel Provini d’autore – Autoren-Proben).

Derartige Proben, bei denen die Schauspieler vier Tage miteinander verbringen, zusammen Szenen vorbereiten und der Arbeit der anderen beiwohnen, geben Hinweise auf individuelle Eigenschaften der Schauspieler, auf ihre Bereitschaft zur Gruppenarbeit, darauf, ob sie sich auf der Bühne mit ihren Kollegen verständigen können, ihnen zuhören können, sich deren Arbeit gegenüber respektvoll verhalten und daraus kreative Anregungen ziehen können. Man erhält so Informationen über ihre Fähigkeit, sich in ein Ensemble einzubringen worauf die Stanislawski-Tradition immer den größten Wert gelegt hat.‘ (Man braucht nur an das von Stanislawski gelehrte Theater-Ethos zu denken, an die verzweifelten Aufrufe Wachtangows zur Einheit im Ensemble, um sein Drittes Studio zusammenzuhalten, das sich nach der Revolution aufzulösen begann, [71 an die Geschichte des Taganka, dessen Ensemble – aus einem Kurs des Sukin-Instituts hervorgegangen, unter der Regie von Juri Ljubimov – über zwanzig Jahre lang vereint blieb, und so fort).

Die Berichte, die ich bei den Schülern Vassiljevs gesammelt habe, bestätigen, daß die Auswahlverfahren in Rußland sich nicht sehr von denen unterscheiden, denen ich in Rom persönlich beigewohnt habe. So wurde zum Beispiel 1990, um in den neuen Kurs der „Schule“ aufgenommen zu werden, außer den obengenannten Proben von den Bewerbern auch verlangt, einen Einakter zu schreiben, einen Regieplan für irgendein berühmtes Drama vorzulegen – was, aus offensichtlichen sprachlichen Gründen, mit einer Gruppe italienischer Schauspieler unmöglich war – und schließlich folgende Übung – der Schauspieler sollte ein Erlebnis aus seinem eigenen Leben erzählen, das seiner Meinung nach einem Erlebnis einer bekannten literarischen oder dramatischen Figur analog war, und er sollte es so erzählen, als ob er jene Figur wäre und in ihrem Namen spräche (zum Beispiel: die Erzählung, wie man einmal einem Jungen, der den Tod riskierte, nicht zu Hilfe kam, und das als Irina aus Die drei Schwestern von Tschechow; die Erzählung, wie man einer bestimmten Pflicht nicht nachgekommen war aus. Angst vor den unangenehmen Konsequenzen, und das als Don Abbondio «Figur aus Manzonis „Die Verlobten“»; usw.). Diese Übung ähnelt der über den Monolog von Monmüna, sie läßt aber dem Schauspieler noch mehr Freiheit, denn er kann sich das Erlebnis und die Figur aussuchen, die ihm am besten gefallen eine Übung, die ein viel direkteres Involviertsein der Schauspieler-Persönlichkeit sowohl in der Erzählung als auch in der Aktion auf der Bühne vorsieht (und provoziert). [81 Zu Beginn der Bewerber-Auswahl hat man also bereits das zukünftige Theater-Ensemble im Auge. Aber die „Schule der dramatischen Kunst“ ist ein Theater, das nicht nur sehr ausgeprägte stilistische Besonderheiten hat, sondern auch eine ganz eigene Theater- Philosophie, denn seine Arbeit besteht nicht nur in der Ausbildung, sondern auch und vor allem in der Forschung (Theater-, Literatur-, Anthropologie-, Philosophie-, Mystikforschung – wie weit sie auch

immer reichen mag), wie man sie erfährt, wenn man das Textstudium mit der Handlung in Verbindung bringt, und zwar der Handlung auf der Bühne. Um Theater zu machen wie es hier verlangt wird, muß sich der Schauspieler also grundlegend einem völlig anderen System anpassen, einer völlig anderen Idee von Theater, verglichen mit der, die an anderen Theaterschulen gelehrt wird. Er muß sich neu erziehen. Tatsächlich haben alle Schauspieler, die für die Kurse Vassiljevs ausgewählt werden, bereits eine fertige Schauspieler-Ausbildung in der Tasche, und oft sogar eine gewisse Theater-Erfahrung. Das bedeutet, daß die „Schule der dramatischen Kunst“ keine Theater-Grundausbildung gibt, sondern das Ilandwerk eines Theaterkünstlers, der bereits eigene Theater-Grundlagen hat, völlig in Frage stellt. Das ausgewählte Ensemble wird also daraufhin orientiert und vorbereitet, nach einer anderen Theater-Mentalität zu arbeiten, deren Charakteristiken wir im Folgenden, wenn auch nur in groben Zügen, darstellen wollen.

3) DIE LUDISCHEN STRUKTUREN

Das Theater, wie Vassiljev es sieht / konzipiert, basiert auf “ ludischen Strukturen“ – wie er es nennt. Das sind Strukturen, die es erlauben, ein abstraktes Theater zu machen, ein konzeptionelles Theater, ein Theater, in dem es die Ideen sind, die in Konflikt miteinander treten und nicht die Menschen. Nicht immer galt für Vassiljev, daß der Kern der Theateraktion die Ideen sind. «oder sehr frei üb.: Das war nicht immer so für Vassiljev.». Die Theater-Idee seiner ersten vierzehn Jahre Berufspraxis war geprägt vom Stil des sogenannten „psychologischen Realismus“, d.h. von dem Stil, der aus der Tradition des Theaters der Kunst kam und aus einer realistischen, in Rußland weitestgehend verbreiteten Interpretation nach den Lehren Stanislawskis. Einige seiner bekanntesten Inszenierungen (Die erste Version von „Vassa Zeleznova“ von Gorkij 1978 und Die erwachsene Tochter eines jungen Mannes 1979 und Cerceau 1985, beide von V. Slavkin – ein Theaterautor, der der Generation Vassiljevs angehört, sie sind Anfang der 40-er Jahre geboren -) waren solche, in denen man Fragen stellte, in denen geredet wurde, über das Leben der Menschen, über ihre Beziehungen zueinander, über die Gesellschaft und den Einzelnen darin. Die Gorkij-Inszenierung drehte sich um die Problematik von Macht-Beziehungen und um Macht-Kämpfe innerhalb der Familie. Auch die anderen beiden Inszenierungen hatten eine „soziale“ Thematik. Die erste (Die erwachsene Tochter eines jungen Mannes) erzählte von den Problemen der unter Stalin aufgewachsenen Generation und von der Beziehung des sowjetischen Menschen zu der Gesellschaft, in der er lebte. Die zweite (Cerceau – die auch im Teatro Argentino in Rom zur Jahreswende 1988/89 aufgeführt wurde) war in erster Linie ein Gleichnis über die Suche nach dem Schönen und nach der Vereinigung im Schönen in einer Welt – wie der sowjetischen -, die diese Notwendigkeit auszuschließen schien.

Vassiljevs stilistische Wende, auf die die lange Arbeit an Cerceau hingeführt hatte (fast fünf Jahre dauernde Proben, wenngleich mit vielen Unterbrechungen), kam mit Sechs Personen suchen einen Autor von Pirandello im Jahre 1987. Seither macht Vassiljev ein Theater – und das immer radikaler je mehr Zeit verstreicht -, in dem die Handlung nicht abhängt von den Erlebnissen der Menschen und den gesellschaftlichen Begebenheiten, sondern von den dahinterstehenden Ideen, den dahinterstehenden Kategorien. Dieser Ansatz verlangt vom Schauspieler, daß er nicht mehr gleichzeitig Subjekt und Objekt seines künstlerischen Suchens ist, wie es die russische Tradition vorsieht (wobei sie den Schauspieler dazu auffordert, im eigenen Innenleben Gefühle und Erlebnisse zu suchen, die denen der Figur analog sind), sondern daß er sich darauf beschränkt, ausschließlich suchendes Subjekt zu sein und es allein dem Drama überläßt, die Rolle des Forschungs-Objekts zu übernehmen. Um es kurz zu machen.- mit Beginn der Textanalyse wird die Hauptkonzentration darauf verlegt, die Ideen, deren Träger die Figur ist, herauszuarbeiten. Um das zustande zu bringen, muß man die ganze Arbeitsausrüstung der russischen Tradition zur Theater-Ausbildung radikal erneuern, sie und ab- und umändern. Um ein Beispiel zu nennen: dieser Ansatz verlangt, daß die Kriterien, auf deren Grundlage man die „gegebenen Umstände“ definiert, neu betrachtet werden, und daß man lernt, nicht mehr die psychologischen Voraussetzungen der Figur als vorrangig anzusehen – resultierend aus ihrer Geschichte, ihrer Stellung, ihren Gefühlen und der Situation, in der sie sich befindet; (wie es hingegen – um ein klares und erhabenes Beispiel zu zitieren – das Alterego Stanislavskis, Torcov, tat, als er, im Kapitel über Gogols Der Revisor in Die Arbeit des Schauspielers an der Rolle, erklärte, welche „gegebenen Umstände“ das Verhalten, die Handlungsweise Chlestakovs hätten beeinflussen können,- in einer “ Indischen Struktur“ werden eben diese „gegebenen Umstände“ entweder in Funktion auf einen Ideenkonflikt interpretiert – und nicht in Funktion auf ihre psychologische Wirkung auf das Verhalten der Figur – oder es werden andere „gegebene Umstände“ gesucht. Es ist offensichtlich, daß nicht alle Theaterstücke sich für ein Theater mit “ ludischen Strukturen“ hergeben. „Moralische“ Stücke – lbsen zum Beispiel oder Ostrowski – sind eher ungeeignet).

Vassiljev war Schüler von M. Knebel (ihrerseits Schülerin von Michail Cechov und Mitarbeiterin Stanislavskis bei seinem letzten pädagogischen Experiment: der Operno-dramatitscheskaja studija). Und obwohl sich seine Theater-Theoretisierungen und seine -Praxis vom Boden der russischen Tradition abheben, haben sie doch ihre Wurzeln tief in eben dieser Tradition. Um – wenn auch nur in groben Zügen – darzulegen, was Vassiljev mit „ludischer Struktur“ meint, scheint uns eine vergleichende Analyse mit der „psychologischen Struktur“ nützlich, also mit jener Struktur, die den weitestverbreiteten Theater-Stil all derer geprägt hat, die sich auf die Stanislawski-Tradition berufen, und das bedeutet auf den psychologischen Realismus.

Bei einer „psychologischen Struktur‘ müssen sich die Schauspieler auf die handelnden Personen beziehen, als wären sie Figuren und d.h.  Wesen, die innerhalb des sie betreffenden Geschehnisses leben, die es “an der eigenen Haut“ erfahren, und die sich daher in einer bestimmten Situation an einem bestimmten Punkt des Drama-Ablaufs zwar bewußt sind, wie die Drama-Geschichte bisher mit ihnen verfahren ist, nicht aber, was auf der nächsten Seite desselben Dramas mit ihnen passieren wird.

Bei einer „Ludischen Struktur“ hingegen versinnbildlichen die handelnden Personen Wesen, und das heißt funktionale Einheiten, die zwar der Weiterentwicklung des Dramas dienen, das konkrete (psychologische, soziale, körperliche etc.) Leben aber außen vor lassen; funktionale Einheiten, die die Ideen-Geschehnisse darstellen und dabei die Handlung auf den folgenden Seiten und auch den Ausgang des Dramas genau kennen.

Daraus folgt, daß bei der psychologischen Struktur die Schauspieler als Figuren eines Dramas handeln, als Figuren, die menschliche Eigenschaften haben und die untereinander Beziehungen eingehen aufgrund der Eigenschaft, Mensch zu sein. Ihre Beziehungen werden von den Voraussetzungen bestimmt, die von der Dramenhandlung gegeben sind, und deshalb handeln die Schauspieler auf der Grundlage der zu Anfang des Dramas gegebenen Umstände, welche ihre eigene Position charakterisieren (Vassiljev nennt dieses Zusammenwirken von Umständen Ausgangsbegebenheit).

Nehmen wir als Beispiel – in vereinfachter Interpretation – die vierte Szene des ersten Aktes aus Jeder nach seiner Art, bei der ich das Glück hatte, mit Vassiljev arbeiten zu können.

Würden wir diese Szene unter dem Gesichtspunkt der psychologischen Struktur analysieren, würden wir sie so sehen.- Donna Livia, die Mutter von Doro Palegari, hat erfahren, daß ihr Sohn während einer Diskussion mit einem seiner besten Freunde, bei der es fast zu Handgreiflichkeiten gekommen wäre, eine gewisse Delia Morello verteidigt hat, einen Vamp, auf deren Gewissen schon der Selbstmord zweier Männer geht, deren Ruf recht zweifelhaft und deren Herkunft unbekannt ist. Donna Livia ist sehr besorgt und versucht, unterstützt von zwei Freunden, von einem anderen Freund ihres Sohnes, Diego Cinci, zu erfahren, was nun wirklich vorgefallen sei und ob Doro tatsächlich in dieses „Frauenzimmer“ verliebt sei. Es scheint, daß Diego nichts Genaues weiß. Aus dieser Anfangssituation nun (Donna Livia hat vom Streit Doros mitseinem Freund erfahren und ist um ihren Sohn besorgt, die Freunde sind zuvorkommend und möchten ihr gern helfen, versuchen aber gleichzeitig, hie und da die Situation zu entschärfen, Diego kann oder will nicht Stellung beziehen) rühren bestimmte Beziehungen zwischen den Figuren her, und folglich bestimmte Wendepunkte «Peripetien» im Dramenverlauf (der sich hier zu einem langen und immer drängenderen „Verhör“ entwickelt). Die Schauspieler, die diese Szene spielen wollen, müssen diese Beziehungen untereinander aufbauen, sich in die innere Verfassung der Figuren versetzen (Donna Livia ist besorgt, die Freunde sind zuvorkommend, Diego ist verschlossen) und der Entwicklung des Dramas folgen, wobei sie ihre Beziehungen zueinander von Mal zu Mal den dramatischen Positionen anpassen müssen, die sich infolge der Handlungsentwicklung gebildet haben (zum Beispiel wird die Besorgnis Donna Livias in dem Moment ansteigen, in dem sie erfährt, daß nicht ein Mann, sondern zwei sich wegen Delia umgebracht haben, sie wird mehr Druck auf Diego ausüben, die Freunde werden verlegen und ziehen sich angesichts der steigenden Spannung immer mehr zurück).

Bei der „Iudischen Struktur“ hingegen werden die Schauspieler als Wesen handeln und deshalb weder die psychologische oder menschliche Problematik, die für die Figur typisch ist, übernehmen noch die Figur selbst, sondern, im Gegenteil, alle beide auf Distanz halten, obgleich sie sie nicht aus den Augen verlieren. Die Schauspieler-Wesen werden sich nicht am Leben der Figur orientieren, sondern nur an der ideellen Problematik, deren Träger die Figur innerhalb des Dramas ist. Auch die Beziehung, die sich auf der Bühne zwischen den anderen Schauspielern einstellt, wird eine Beziehung zwischen Schauspieler-Wesen sein oder besser, sehr vereinfacht dargestellt, zwischen Schauspielern die selbst auf der Bühne spielen, im Sinne von ludere, und nicht zwischen Schauspielern, die versuchen, die Figuren zu sein oder sich in sie zu verwandeln. [14] Diese Beziehungen organisieren sich daher nicht, wie es bei der psychologischen Struktur geschieht, als Folge der Situation, in der sich die Figuren befinden, sondern vielmehr in Funktion auf den ideellen Zweck des Dramas: sie sind bestimmt vom (dialektischen) Weg, den man nehmen muß, um bei den Ideen anzukommen, die in der Begebenheit eingeschlossen sind, welche die Entwicklung des Dramas abschließt (und die Vassiljev Hauptbegebenheit nennt).

Zum Beispiel ist unter diesem Aspekt – die Analyse ist hier wirklich sehr vereinfacht – der Motor dieser oben beschriebenen Szene der abschließende Monolog Diegos, in dem er mit einem Gleichnis über den Tod seiner Mutter von der Unerkennbarkeit der Dinge und des Menschen spricht; und im Wesentlichen entwickelt sich diese Szene dann zu einem Disput zwischen Donna Livia und Diego über Erkennbarkeit und über Wissen und führt schließlich zu dieser Schlußfolgerung (die Donna Livia nicht akzeptieren wird, das aber steht in Bezug zur Fortsetzung des Stücks). Um diese Szene in „ludischer Struktur“ zu spielen und zu dieser Schlußfolgerung zu kommen, müssen die Schauspieler begreifen, wie die Aktion im Drama strukturiert ist, das heißt sie müssen begreifen, wo die Übergänge im dialektischen Spiel sind, die zu dieser Schlußfolgerung führen, und sie müssen versuchen, diese Struktur nachzuverfolgen und beim Finale anzukommen. Die Beziehungen zwischen den Schauspieler-Wesen auf der Bühne stehen in Funktion zur Entwicklung der Aktion und das heißt, sie versinnbildlichen einen ‚Iudischen‘ Konflikt, einen spielerischen, der nicht bestimmt ist von den Voraussetzungen, welche die Situation der Figuren am Anfang des Stücks ausmachen, sondern der eben nur von der Notwendigkeit bestimmt ist, die die Drama-Struktur aufgibt (um es kurz und stark vereinfacht zu sagen: nicht „weil ich die Mutter von Doro bin, mache ich mir Sorgen um sein weiteres Leben und möchte von dir Genaueres wissen“ und [151 „weil ich der Freund von Doro bin, sage ich dir nichts Genaueres“-, sondern „um dieses bestimmte philosophische Ziel zu erreichen, braucht man zwei Parteien in einem dialektischen Konflikt, die diesen Weg beschreiten; du besetzt die eine Position, ich die andere und wir handeln danach“). Diese Einstellung fordert natürlich Distanz von den Wechselfällen der Figur, von der «vorgegebenen» Handlung. Zum Beispiel wird es hier unwichtig für die Schauspieler, sich als Mutter oder als Freund von Doro zu definieren andererseits wird ein tiefes, persönliches, emotionales Verständnis vonseiten des Schauspielers unerläßlich (ein Verständnis, das er nur im Handeln auf der Bühne erreichen kann), und zwar ein Verständnis der im Text behandelten philosophischen Problematik und ihrer Entfaltung darin. (Man muß hier anmerken, daß diese Analyse der vierten Szene des ersten Aktes von jeder nach seiner Art nicht nur sehr vereinfacht, sondern auch aufgrund der Veranschaulichung sehr verkürzt wurde. Vassiljevs Analyse sah in der Tat in dieser Szene ein Zusammenwirken von Indischen und psychologischen Strukturen vor. Nach Vassiljev ist gar einer der typischen stilistischen Züge Pirandellos der kontinuierliche Wechsel einer handelnden Person vom Abstrakten zum Konkreten, vom Realen zum Imaginären; eine Wechselhaftigkeit, die eben die gleichzeitige Anwendung beider Strukturen verlangt)

Wenn also in einer psychologischen Struktur der stanislawskische Satz „ich unter gegebenen Umständen“ übersetzt werden kann mit „ich unter emotionalen, umgebungsabhängigen und physischen Umständen, in denen sich die Figur befindet“, so wird derselbe Satz in der „Iudischen Struktur“ übersetzt mit „ich unter den Umständen, die mir die Aktions- Struktur (ausgerichtet auf die Hauptbegebenheit) des Werkes vorgibt.“  Die Schauspieler-Figur weiß nicht genau, wohin sie auf dem Weg ist, aber sie weiß sehr wohl, woher sie kommt. Das Schauspieler-Wesen weiß weniger genau, woher es kommt, aber es weiß hundertprozentig, wohin es geht und wie es dorthin kommt.

In einer psychologischen Struktur wird der Schauspieler seine Emotionalität, seine Gefühle leiten aufgrund der Beziehungs- Rekonstruktion der Figuren untereinander und aufgrund seiner inneren Einstellung als Schauspieler-Figur. In einer „Iudischen Struktur“ wird der Schauspieler seine Emotionalität, seine Gefühle leiten aufgrund seines Verstehens der umfassenden philosophischen Ideen und Bedeutungen des Werks.

Um es noch einmal zusammenzufassen: das Ensemble der Schauspieler, die in der „Schule der dramatischen Kunst“ Aufnahme fanden, wird dazu angeleitet, eine abstrakte, eine konzeptionelle Situation zu handhaben, die nicht dem konkreten Leben, sondern dem Leben der Ideen entnommen ist. Ihm wird beigebracht, die Aktions-Struktur des Dramas zu untersuchen. Es lernt, Distanz zu halten zwischen sich und der Rolle und diese Distanz dazu zu verwenden, frei zu spielen und zu improvisieren, sich nicht mit der Figur zu identifizieren; die Komposition des Dramas zu handhaben, das heißt während seines Handelns sich immer des Folgenden und vor allem der Hauptbegebenheit bewußt zu sein, auf die hin es sich zubewegt; «es wird dazu angeleitet,» über den ideellen Sinn des Werkes nachzudenken und nicht über die Angelegenheiten der Figuren.

Dieser theoretische Ansatz, der vom Schauspieler vor allem verlangt, sich selbst und seine künstlerische Aufmerksamkeit ’nach außen‘ zu wenden und also dem Drama als solchem zu, der Aktions-Struktur zu, «dieser Ansatz» kann als eine Fortentwicklung gewisser Elemente aus dem theoretischen Erbe von M. Cechov angesehen werden, besonders seines Postulats, demzufolge die künstlerischen Bilder (obrazy) der Figuren in einer der unseren übergeordneten Welt ein autonomes Leben führen. Nach Michail Cechov muß der Schauspieler seine kreativen Bemühungen dieser Welt zuwenden, er muß sich die Aufgabe stellen, mit den Bildern in Kontakt zu kommen und dann muß er sie so lange imitieren, bis er beginnt, „aus Sym-Pathie“ das zu fühlen was sie fühlen. Aus dem Buch von M. Cechov „An den Schauspieler“: Da leuchten aus den Erinnerungen der Vergangenheit hier und da völlig unbekannte Bilder auf. (…) Diese Bilder erscheinen, verschwinden wieder, kommen aufs Neue zurück und bringen neue und unbekannte Elemente mit sich. Und da treten sie in Beziehung zueinander. Sie beginnen unabhängig von euch zu ‚handeln‘ und zuspielen‘, vor euren faszinierten Augen, sie führen euch durch ihre vergangenen und geheimnisvollen Leben. ( … ) Euer Geist ist hellwach und aktiv. Die persönlichen Erinnerungen werden immer schwächer und die neuen Bilder besitzen ein unabhängiges Leben. (..) Diese faszinierenden Gäste, die ein Eigenleben voller Emotionen führen, wecken eure Sensibilität für neue Reaktionen. Sie zwingen euch, mit ihnen zu lachen und zu weinen. Wie durch einen Zauber wecken sie in euch den unmöglichen Wunsch, zu ihnen zu gehören. Jetzt beginnt ihr einen Dialog mit ihnen, ihr stellt euch vor, in ihrer Gesellschaft zu sein: ihr möchtet sie nachahmen. Diese Bilder haben euch aus einer passiven Geistesverfassung in einen kreativen Zustand gehoben.“ Im weiteren Verlauf des Buches behauptet M. Cechov, daß der Schauspieler, nachdem er das künstlerische Bild der Figur ‚heraufbeschworen‘ hat, es „verhören“ muß, und er gibt als sein bevorzugtes Instrument dazu die Improvisation an, das freie Spiel auf der Bühne.

Hier muß jedoch angemerkt werden, daß für M. Cechov der nächste Schritt nach der Beschwörung und nach dem Verhör des Bildes die Imitation desselben sein sollte, das heißt die Schaffung einer Figur auf der Bühne, welche jener der ideellen Bilderwelt analog ist. [18] Nicht nur das: für M. Cechov scheint die Beziehung zu dem Bild sich auf die Phase des Rollen-Aufbaus zu beschränken. Außerdem, wenn man seinen Beschreibungen über die Arbeit an der Figur glaubt, scheint M. Cechov sich innerhalb der Theaterpoetik des psychologischen Realismus zu bewegen, auch wenn uns die Aufführungsgeschichte seiner Stücke eines anderen belehrt, denn in ihnen trat eine spirituelle und mystische Suche zum Vorschein, die stark beeinflußt war vom anthroposophischen Gedankengut Steiners.

Für Vassiljev hingegen muß der Schauspieler, während er spielt, das Bild der Figur auf Distanz halten, besser ausgedrückt: die Idee der Figur, und er muß auf der Bühne eine spielerische, eine freie Beziehung mit ihr eingehen. Gleichzeitig richtet sich seine ganze Aufmerksamkeit nicht auf die Nachahmung des Bildes der Figur, sondern auf den Weg der konzeptionellen Aktion, den er beschreiten muß, um die Hauptbegebenheit zu erreichen. Daraus folgt, daß das künstlerische Bild, das ihn erfüllen muß, dessen Vermittler er werden muß, nicht jenes der Figur ist, sondern jenes der Idee, von der die Figur, die handelnde Person, Funktion und Ausdruck ist.

So wird er also – um diese Zielsetzung zu erreichen, die wir mit konkret, mit utilitaristisch bezeichnet haben und die aus dem Schüler eine neue Stütze des Theater-Ensembles machen soll – dazu angeleitet, seine bisherige Denkweise und seine bisherige Art, Theater zu machen, zugunsten eines idealistischen Rahmens umzustoßen.

Welches ist nun der Weg, den der Schüler gehen muß, um das von ihm verlangte Ziel zu erreichen? Oder anders gesagt: wie ist Vassiljevs „Schule der dramatischen Kunst“ aufgebaut? Wir werden das anhand der Beschaffenheit der letzten drei, von Vassiljev in seinem Theater geleiteten, Ausbildungskurse für Regisseure und Schauspieler sehen.  (Im Moment gibt es keine Kurse an der „Schule der dramatischen Kunst“, aber es ist wahrscheinlich, daß bald ein neuer aufgebaut wird.)

4) AKTIVITÄTEN UND STRUKTUR DER „SCHULE DER DRAMATISCHEN KUNST“ (1987  bis 1995)

Der Studienkurs der „Schule der dramatischen Kunst“ dauert fünf Jahre und ist als Fernkurs organisiert. Mit dem Wort “ Fernkurs“ meine ich den russischen Ausdruck zaocnyi kurs, was wörtlich übersetzt „Kurs jenseits der Augen“ bedeuten würde (za – jenseits, oci – Augen) und was im Wörterbuch mit “ Fernunterricht, Fernstudiuim” «Daum-Schenk» übersetzt wird.

Die typische Organisation eines solchen Kurses an den russischen Theaterinstituten sieht wie folgt aus: einige Regisseure und Schauspieler aus verschiedenen Gegenden Rußlands, aber auch aus dem Ausland, treffen sich alle fünf Monate im Institut und wohnen derweil in Appartements und Zimmern des Instituts. Hier, während einer etwa einmonatigen Zeitspanne intensiver Arbeit (die sessija heißt, das bedeutet „Sitzung“), beschäftigen sie sich mit den vom Pädagogen gestellten Aufgaben, legen Prüfungen ab, erhalten ‚Hausaufgaben‘ für

die folgenden fünf Monate und trennen sich am Ende wieder. Wenn sie ein festes Engagement haben, gehen sie an ihr Theater zurück und versuchen das in der letzten ‚Sitzung‘ Erarbeitete in die Praxis umzusetzen. Die Schüler machen die Aufgaben, die ihnen gestellt

worden sind, und nach fünf Monaten treffen sie sich wieder im Institut, und jeder bringt neue Fragen mit und neue Probleme. Derartige ‚Sitzungen‘ finden zweimal pro Jahr statt: im Herbst und im Sommer. Der Kurs dauert  fünf Jahre, das bedeutet zehn ‚Sitzungen‘. Die ‚Sitzung‘ ist so unterteilt, daß ein Teil nur der Theaterkunst gewidmet wird und ein anderer der allgemeinen Ausbildung (der etwa 10 Tage dauert), bei der die Schüler abgehört werden und Prüfungen in folgenden Fächern ablegen. Geschichte, Geschichte der Bildenden Künste, Aesthetik, Philosophie-Geschichte, Russische Theatergeschichte, Westeuropäische Theatergeschichte, Russische Literatur, Ausländische Literatur, Sittengeschichte, Regiegeschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts usw.

Eine szenische Darbietung der gefundenen Ergebnisse schließt jede letzte ‚Sitzung‘ eines Akademischen Jahres ab und die Abgeordneten des Lehrerkollegiums des Instituts wohnen ihr bei. Am Ende der allerletzten Kurs-Sitzung findet eine Aufführung statt.

Dieses Modell eines Kurses für Fernstudierende wird von der „Schule der dramatischen Kunst“ nur teilweise übernommen, denn bei den verschiedenen Kursen, die bis heute an dieser Schule abgehalten worden sind, ist es immer wieder Änderungen unterworfen worden. Zwar wurden in der Anfangsphase die Kurse getreu diesem Modell

Ein Workshop-Erfahrungsbericht von Angela Eickhoff

Die Arbeitsweise von Judith von Radetzky

(nach der Etudenarbeit von A.Vassiliev/K. Stanislawski)

Ein Workshop-Erfahrungsbericht

Vor 2 Monaten habe ich einen Workshop mit Judith v. Radetzky besucht, weil mich ihr Flyer interessiert hat. Es klang nach tiefer schürfender Theaterarbeit, nach Neuem, nach Suchen, nach all dem, wozu man in der normalen Probenarbeit kaum Zeit hat.

Wir haben uns anhand des Shakespeare Stückes „Maß für Maß“ der Etuden- Arbeit von Stanislawski genähert. Diese spezielle Arbeit an einem Text, hat sich in der westeuropäischen Welt noch nicht so verbreitet, wie Stanislawskis andere „Methoden“ („The Method“), da er diese in seinen späten Jahren entwickelt hat, als der Eiserne Vorhang schon gefallen war.

Ich glaube, ich kann noch nicht zu Gänze sagen, was diese Arbeit alles beinhaltet, aber der Kern ist folgender:

Man unterteilt den Text/ die Szene in viele kleine Sinneinheiten und spielt diese Abschnitte erstmal lange mit eigenen Worten durch. Man weiß also, wer wann was zu sagen hat, aber man sagt es mit eigenen Bildern und Worten (ausgehend natürlich von der Erfahrungswelt der jeweiligen Figur und sich selber). Man kaut so lange an einem Bild herum, wie man möchte. Loopings sind erlaubt, alles was dazu dient, den Text mit eigenen Bildern anzureichern. Schrittweise wird dieses Improvisieren über den Text zurückgefahren, bis nur noch der eigentliche Text überbleibt, den man in einer Art und Weise verstanden, durchdrungen und sich zu eigen gemacht hat, wie es sonst im Theater nicht möglich ist. Am Ende kann man nur noch den eigentlichen Text sagen, weil er ein Konzentrat dessen ist, was man vorher entwickelt hat.

Das heißt, dass man in dieser improvisatorischen Arbeit sehr bei sich bleibt und von sich ausgeht. Natürlich hat man eine Figur vor Augen- in meinem Fall war das Isabella, eine Novizin, die erst alles Körperliche als Hindernis auf ihrem geistlichen Weg ablehnt und am Ende den Herzog heiraten wird, weil sie in ihrer Entwicklung lernt, dass auch die Verbindung zwischen Mann und Frau eine geistige Ebene öffnen kann.

Man gibt sich als Schauspieler preis, versteckt sich nicht hinter einer Rolle. Was in weiterer Folge auch bedeutet, dass man dem Zuschauer sich ganz anders preis gibt. Etwas sagt über sich, seinen Haltungen, Anschauungen.

Judith sagte einmal, Stanislawski hätte gesagt: Das Theater, ohne Gott, ist tot. Und interessanterweise kamen wir auch immer auf „höhere“ Themen zu sprechen, zu denen man irgendeine Haltung beziehen muss. Welche auch immer.

In diesem Sinne habe ich eine Arbeitsweise erlebt, die auf ganz andere Art gesellschaftliche Relevanz hat. Eigentlich etwas, was man sich immer vom Theater gewünscht hat, was aber im Alltagsprozess immer wieder versickert. Ein Theater, das Stellung bezieht, dadurch, dass Menschen auf der Bühne Stellung beziehen. Sehr spannend.

Die Probensituation sah so aus, dass wir morgens immer ein Training machten. D.h. Übungen, die die Sinne und Antennen des Menschen und Spielers auf die konkrete Arbeit vorbereiten- inhaltliche Vorübungen, Partner- und Gruppenübungen, Übungen, die die Etüdenarbeit verständlicher machen…

Danach gab´s eine Besprechung des jeweiligen Abschnitts mit Judith. Und dann haben sich die Partner zusammen auf die Szene vorbereitet.  Sehr hilfreich war, dass drei von den Teilnehmern schon länger mit der Arbeit vertraut waren und man so gut von dem Partner lernen konnte. Den Abschluss machte die eigentliche Etudenarbeit. Die Paare haben dabei selbst bestimmt, wann sie dazu bereit waren. Und los ging´s, ohne Netz und doppelten Boden.

Das hat mal super geklappt, mal gar nicht. Aber so ist das, wenn man Neues lernt. Ich denke, so ist das bei dieser Arbeitsweise generell. Weil sie eben so stark mit den Spielern verknüpft ist. Dann hängt der Erfolg plötzlich von allem ab: ob man bereit ist sich zu öffnen, zusammenspielt, bei Kräften ist, Lust hat/ Angst hat, sich Zeit nimmt, einlässt…

Diese Arbeit lernt man nicht in 8 Tagen (so lange ging der Workshop, den ich besucht habe). Aber ich habe eine Ahnung bekommen, was Theater sein und leisten kann. Und ich habe Dinge, Kniffe, gelernt, die mir in meiner jetzigen Theaterarbeit großartige Dienste leisten- Britta und ich haben dadurch für uns in unserem gemeinsamen Kinderstück „Die Prinzessin und das Küchenmädchen“ einen Durchbruch an einer Stelle erzielt, die nie richtig funktioniert hat- nach 5 Jahren Spielen desselben Stückes!-…

Also ich fand diese Arbeit sehr lohnenswert, sehr spannend. Ich will mehr davon. Und ich wünschte, dass sich die Theaterwelt bei uns mehr darauf einlässt. Dann haben wir nämlich wieder ein Theater, dass die Gesellschaft spiegeln kann, dass schockieren und wachrütteln kann, nicht durch blöde Provokation, sondern durch Haltung.

Angela Eickhoff

Referenz Seminar Shakespeare

Slam-Dialoge mit Shakespeares „Maß für Maß“

Eine achttägige intensive Fortbildung für Schauspieler, unter der Leitung der Regisseurin Judith von Radetzky (Foto oben)  im März 2012

von Susanne Meyer/ Teilnehmerin

Slam-Dialoge mit Shakespeares Stück“ Maß für Maß“!? Was mag das sein? Geht das überhaupt?

Lässt sich das Werk dieses Genies wirklich auf diese Art bearbeiten?

Es geht! Und wie! Ich habe es selbst während eines achttägigen Seminars im März ausprobiert.

Und wie? Die Kunst ist: Sorgfältige Vorbereitung/Begleitung durch die Regisseurin Judith von

Radetzky und das Sich-Einlassen auf den Moment. Ein dreiteiliger Aufbau des Seminars

– Körpertraining, Textanalyse, Spiel auf der Probebühne inkl. Feedback – hilft dabei, das Instrument

des Schauspielers zu stimmen. Am Beispiel der Dialogszene zwischen Isabella und Angelo im 2. Akt

wurde der Text mit eigenen Worten erarbeitet, wurden die großen, ewig gültigen Fragen der

Menschheit behandelt und der Sinn des Textes geschmeidig gemacht. Auf der Bühne wurde dann mit

eigenen Worten das Spiel gestaltet.

Dabei führt das Schaffen aus dem Nichts, die Improvisation, das Weitertreiben des Dialogs mit den

eigenen sprachlich-körperlichen Mitteln zu der wunderbaren Erkenntnis: Auch ohne den Original-

Text zu benützen, schafft man es, dem Sinn des Stückes Leben zu geben. Das wirklich

Herausfordernde selbst für einen professionellen Künstler ist das Sich-Abkoppeln vom Ursprungstext,

das Ringen um den eigenen authentischen Ausdruck und das Sich-Einlassen auf eine völlig

ungeplante Spielsituation, die erst im Moment entsteht.

Ohne konzentrierte, engagierte Arbeit aller Beteiligtenwäre das nicht möglich gewesen, aber es hat

den acht Künstlern auch sehr viel Spaß gemacht und den Kopf „umgerührt“! Fortsetzung folgt!

(Nächstes Seminar: Slam-Dialoge mit Shakespeares „Maß für Maß“ vom 21.6. bis 30.6.2012)

Foto: Stefan Klüter

Schonzeit fürs Publikum – kleine Erzählung

Zeitdokumente – Ansichten im Wandel der Zeit

Er war schon zu alt, um sie zu verlassen. Der andere zu gehemmt, der dritte zu frei, aber in Wirklichkeit unentschieden. So war es wahrscheinlich, psychologisch gesehen. In der Psychologie gibt es immer gute Gründe. Klare Gründe. Erklärbare Gründe, Gründe der Gründe.

Sie selbst war beleibt und schon lebensmüde, doch immer noch konnte ein Funken in ihr wahrgenommen werden, der nicht zu erlöschen schien. Sie akzeptierte diese sonderbare Konstellation, ja  staunte mitunter, dass vier Menschen sich so  treu waren. Sie war es gewohnt seit vielen Jahren allein zu leben, der Treue war sie nicht gerade begegnet.

Alle vier hatten sich zusammengefunden, weil sie das Theater liebten. Und weil sie nicht einverstanden waren mit fast allem, was sich um sie herum so als Theater ausgab. Man könnte sagen, gerade sie als Leiterin des kleinen Ensembles war dumm, dreist und arrogant.  Wenn man alles fast ohne Ausnahme um sich herum als Jahrmarktsbudenzauber ansieht, kann der Fehler nur im Auge des Betrachters liegen: soviel Irrtum gibt es nicht.

Und so zweifelte sie an ihrer eigenen Wahrnehmung. Sie arbeitete an sich! Um die eigene Arroganz zu überwinden. Doch kaum hatte sie wieder einmal einen Theaterabend voller Hoffnung besucht, schon verfiel sie in den alten Unmut.

Was war geschehen?  „Laut, unsensibel krachend, kreischend“ oder „ganz und gar im Realismus des 19. Jahrhunderts gefangen“- das waren die Ergebnisse ihrer Analyse. Im 19. Jahrhundert? Ja, denn da erfanden und entwickelten sensible Autoren und Theatermacher die feinen psychologischen Spielweisen, die das Innere des Menschen sezierten. Aber Brecht? Ja, sein gesellschaftskritischer Ansatz findet sich zu Hauf in den modernen Theatern, aber ohne Menschen. Oder es findet gar kein Theater mehr statt, narrativ ohne Konflikt und Spannung, rein assoziativ schwimmt man in den Phantasien kleiner Spießer mit…..Spießer, die sich natürlich als Avantgarde ausgeben. Warum Spießer? Weil es erfahrungsgemäß der Spießer ist, dem es an Mut mangelt, und der jeden Konflikt vermeidet, versteckt, verschleiert, und wenn es hinter der postmodernen, de – konstruierenden laut bellenden Maske der Erneuerung des Theaters  geschieht. Immer dasselbe, ewig dasselbe. Nein-  einer brüllte den Schmerz hinaus, solange bis er selbst unter ihm zerbrach. Er fühlte Unrecht direkt. Alle applaudieren dem sich selbst gewählten Opfergang – und fühlten sich erleichtert. Ein Christus der Theaterkunst.

Fazit: unendliche Schonzeit für den Zuschauer.

Wo ist der Schmerz? Was ist der Schmerz?

Wenn sie es sich genau überlegte, gab sie sich jedesmal am Ende eines solchen Unmutausbruchs recht. Etwas fehlt auf deutschen Bühnen, etwas, was vorgegeben wird ununterbrochen da zu sein:

Das Fragen stellen.

Wir fragen uns zu Tode. Aber  nicht um uns wieder zu beleben! Wahrscheinlich ist es da, genau an dieser Schnittstelle, wo sich ihr Bruch mit dem deutschen Theater vollzieht: Das Bekannte ist der Tod –  das Leben unergründlich.

Nun kann man einen Roman darüber schreiben wie ein Mensch sich außerhalb aller gesellschaftlichen Übereinkunft stellt. Wie er einsam wird, ein tragischer Verlauf, einzig  weil er an das Leben glaubt. In der Theaterkunst.

Das ist so lächerlich wie nur irgendetwas lächerlich sein kann. Außerdem muß man nun ersteinmal definieren, was das denn sein soll- das Leben in der Kunst, hört sich an wie ein altbackener Titel von Stanislawski. Und außerdem sollte denn der Kunst-und Theaterbertrieb tatsächlich so arrogant sein, dass er andere Ansätze nicht verträgt?  Neulich hörte sie von einem Genforscher, der feststellte, das die Gene durch den Lauf des Lebens wandelbar sind: sie sind zwar der chemische Einfluss dessen, was wir sein können, aber was wir werden hängt nicht von ihnen, sondern vom  kulturelle Einfluss ab. Eine Erkenntnis, die die gesamte Genforschung ad absurdum führt, denn hier geht es ja gerade um die Festlegung, um das Ausgeliefertsein, darum wissenschaftlich-operativ Schicksal zu spielen. Einseitigkeit des Denkens. Diese revolutionäre Nachricht verschwindet unter vielen. Der Genforschungsindustrie kann es nur recht sein!  Keiner kann mehr wichtiges von weniger wichtigem unterscheiden. Unterscheidungsblindheit. Unendlich sich selbst potenzierendes Meinungsspiegelkabinett. Auch im Theater. Längst ist der Darsteller tot, das Theater ein Leichnam, aber ein Gebrüll um diese Tatsache herum als ob es nicht so wäre.

Da ist er also wieder der Tod. Der Tod der Festlegung.

Also Fragen stellen. Aber welche? So viele Probleme gibt es auf der ganzen Welt. Warum nur ist noch niemandem aufgefallen, dass sie alle, wirklich alle selbst gemacht sind. Sie kann es nicht verstehen. Es ist doch so offensichtlich. Und wenn es so ist, warum redet darüber niemand? Im Theater. Wo ist die gedanklich-spielerische Revolution?

In der Tat, das Theater ist der Spiegel der Gesellschaft geworden. Wie ein kranker Hund schleicht es sich um die Eingangspforte des gesellschaftlichen Lebens herum, der Patient kann kaum noch atmen, hält mit schwachen Pfoten sein Spiegelchen: schaut wie schlimm alles ist. Hechelt den Tagesnachrichten hinterher. Ob das wohl so gemeint war bei Hamlet, fragt sie sich?

Ja, das sind komplexe Themen, die lassen sich eben nicht so schnell mal wegwischen. Der Tod der Festlegung. Auch Schmerz ist eine Festlegung, eine Sichtweise. Tatsächlich, wenn es kein Ich gibt, dass sich mit einem Schmerz identifiziert, ist der Schmerz nicht mehr Schmerz, sondern etwas anderes. Ein Geheimnis. Ein Schlüssel. Ein Erstaunen. Ein Mysterium.

Oh je, ein Geheimnis! In diesem geheimnislosen modernen Leben? Ohne Geheimnis: das ist auch eine Festlegung. Und heißt nichts anderes als dass es hinter dem Offensichtlichen nichts zu entdecken gibt. Wir können alles beschreiben, auch unser Unterbewusstes, unsere Sublimierungen, wir haben alles unter Kontrolle. Wir wissen, dass wir manchmal gewalttätig sind, oder besser meistens, dass wir gerne essen und trinken und Sex haben. Die Psychologie erklärt uns alles. Politische Gesellschaftsmodelle ebenso.Wir kennen uns!

…. und kann das Theater (noch) gewichtige inhaltlich-gesellschaftliche Impulse setzen?  …trotz alledem…um das unergründliche Geheimnis des Lebens herum…?

 

AUSSTELLUNG – Stephan Maria Fischer

Stephan Maria Fischer, seit drei Jahren Ensemblemitglied bei Graphit, ist im Zweitberuf Maler und Grafiker mit abgeschlossenem Kunststudium. Neben seiner Haupttätigkeit als Schauspieler hat er seine  Malerei über die Jahre  gepflegt und weiterentwickelt.

Eine Auswahl seiner Arbeiten aus den letzten zwanzig Jahren ist jetzt im Amtsgericht Köpenick, Mandrellaplatz 6 zu sehen. Da sich die Bilder in geschlossenen Räumen befinden und der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind, bietet der Künstler an, Interessenten durch die Ausstellung zu führen.

Anfragen,  auch bei Kaufinteresse, bitte unter  Tel.: 030/53011323 oder E-Mail: stephanmariafischer@web.de. Außerdem nimmt der Maler Aufträge für Porträts oder andere Motive entgegen und betätigt sich als Buchillustrator. Hier finden sie eine Auswahl seiner Bilder.

Lebendigkeit

„Überall ist man nur da wahrhaft lebendig, wo man Neues schafft – überall, wo man sich ganz sicher fühlt,

hat der Zustand schon etwas Verdächtiges, denn da weiß man etwas gewiß,

also etwas, das schon da ist, wird nur gehandhabt, wird wiederholt angewendet.

Dies ist eine halbtote Lebendigkeit. Überall da, wo man ungewiß ist, aber den Drang fühlt und die

Ahnung hat zu und von etwas Schönem, welches dargestellt werden muß, da wo man also

sucht, da ist man wahrhaft lebendig.“

Karl Friedrich Schinkel

Oscar Wilde: Vortrag vor den Kunststudenten (1883)

Vortrag vor Kunststudenten (1883)
Oskar Wilde

Der Vortrag, den ich die Ehre habe heut Abend vor Ihnen zu halten, soll Ihnen keine abstrakte Definition der Schönheit geben. Denn wir, die in der Kunst arbeiten, können nicht eine Theorie der Schönheit als Ersatz für die Schönheit selbst gelten lassen, und weit davon entfernt, sie in einer verstandesmäßigen Formel isolieren zu wollen, suchen wir vielmehr sie in einer Form zu materialisieren, die durch die Sinne die Seele erfreut. Wir möchten sie schaffen, nicht definieren. Die Definition soll dem Werke folgen; das Werk soll sich nicht der Definition anpassen.

Nichts fürwahr ist dem jungen Künstler so gefährlich wie irgendeine Auffassung von idealer Schönheit; sie verführt ihn beständig zu schwächlicher Niedlichkeit oder lebloser Abstraktion. Wollen Sie jedoch das Ideal erreichen, so dürfen Sie es nicht seines lebendigen Wesens entkleiden. Sie müssen es im Leben finden und in der Kunst neu schaffen.

Ich möchte Ihnen also einerseits keine Philosophie der Schönheit geben – denn was ich heut Abend vorhabe, ist: zu untersuchen, wie wir Kunst schaffen, nicht wie wir davon reden können -, andrerseits wünsche ich nicht, ein Thema wie Geschichte der englischen Kunst zu behandeln.

Zunächst bedeutet ein solcher Ausdruck wie englische Kunst nichts. Man könnte ebenso gut von englischer Mathematik sprechen. Die Kunst ist die Wissenschaft der Schönheit, und die Mathematik ist die Wissenschaft der Wahrheit; beide haben keine nationale Schule. Ja, eine nationale Schule ist lediglich eine provinziale Schule. Es gibt überhaupt nichts derartiges wie eine Schule der Kunst. Es gibt nur Künstler – weiter nichts.

Und was Kunstgeschichten betrifft, so sind sie ganz Wertlos für Sie, es sei denn, Sie strebten nach der ruhmreichen Vergessenheit einer Kunstprofessur. Es hat keinen Zweck für Sie, die Jahreszahlen Peruginos oder den Geburtsort eines Salvator Rosa zu kennen; alles, was Sie von Kunst wissen sollen, ist: ein gutes Bild zu erkennen, wenn Sie es sehn, und ein schlechtes, wenn Sie es sehn. Was die Lebenszeit des Künstlers angeht, so sicht jede gute Arbeit vollkommen modern aus: eine griechische Skulptur, ein Porträt von Velasquez – sie sind immer modern, gehören immer unsrer Zeit an. Und was die Nationalität des Künstlers betrifft, so ist die Kunst nicht national, sondern universal. Meiden Sie also die Archäologie durchaus! Die Archäologie ist lediglich die Wissenschaft, schlechte Kunst zu Entschuldigen; sie ist der Fels, an dem mancher junge Künstler scheitert und Schiffbruch leidet; sie ist der Abgrund, aus dem kein Künstler, alt oder jung, je zurückkehrt. Oder wenn er zurückkehrt, ist er so vom Staub und Moder der Zeit bedeckt, dass er als Künstler ganz unkenntlich ist und sich für den Rest seines Lebens unter dem Barett eines Professors oder als Illustrator alter Geschichte verborgen halten muss. Wie wertlos die Archäologie in der Kunst ist, können Sie daran ermessen, dass sie so populär ist. Popularität ist der Lorbeerkranz, den die Welt schlechter Kunst aufsetzt. Was populär ist, ist vom Übel.

Da ich also nicht über die Philosophie des Schönen und die Geschichte der Kunst sprechen will, werden Sie mich fragen, worüber ich denn hier sprechen möchte. Das Thema meiner heutigen Vorlesung lautet: was macht einen Künstler, und was macht der Künstler? Welches ist das Verhältnis des Künstlers zu seiner Umgebung, welche Bildung soll der Künstler empfangen, und was ist das Wesen eines guten Kunstwerks?

Zuerst ein paar Worte über das Verhältnis des Künstlers zu seiner Umgebung, worunter ich das Zeitalter und das Land verstehe, in dem er geboren ist. Alle gute Kunst hat, wie ich vorhin sagte, nichts mit einem besondern Jahrhundert zu tun; diese Universalität ist das Wesen des Kunstwerks; aber die Bedingungen, die dieses Wesen erzeugen, sind verschieden. Sie sollten, meiner Ansicht nach, Ihre Zeit völlig begreifen, um sich völlig von ihr zu abstrahieren. Bedenken Sie, dass, wenn Sie überhaupt Künstler sind, Sie nicht das Mundstück eines Jahrhunderts, sondern Herr der Ewigkeit sein werden; dass alle Kunst auf einem Grundsatz beruht, und dass rein zeitliche Erwägungen überhaupt kein Grundsatz sind; und dass die, welche Ihnen raten, in Ihrer Kunst das neunzehnte Jahrhundert zu spiegeln, Ihnen den Rat geben, eine Kunst zu schaffen, die Ihre Kinder, wenn Sie welche haben, für altmodisch halten. Aber Sie werden mir sagen: dies ist eine unkünstlerische Zeit, und wir sind ein unkünstlerisches Volk, und der Künstler leidet sehr in diesem unserm neunzehnten Jahrhundert.

Natürlich leidet er. Ich leugne das am allerwenigsten. Aber bedenken Sie: es hat nie eine künstlerische Zeit, nie ein künstlerisches Volk gegeben, seitdem die Welt steht. Der Künstler ist immer eine auserlesene Ausnahme gewesen und wird es immer sein. Es gibt kein goldenes Zeitalter der Kunst – nur Künstler, die geschaffen haben, was goldener ist als Gold.

Aber wie, werden Sie mir einwenden, verhält es sich mit den Griechen? Waren sie nicht ein künstlerisches Volk?

Nun, die Griechen sicher nicht, aber vielleicht meinen Sie die Athener, die Bürger einer einzigen Stadt unter tausenden.

Halten Sie die Athener für ein künstlerisches Volk? Betrachten wir sie zur Zeit ihrer höchsten künstlerischen Blüte in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts v. Chr., als sie die größten Dichter und die größten Künstler der alten Welt hatten, als der Parthenon auf Geheiß eines Phidias in seiner Anmut erstand, als der Philosoph im Schatten der gemalten Säulenhalle Weisheit lehrte und die Tragödie in hehrer Hoheit über die marmorne Bühne zog. Waren sie damals ein künstlerisches Volk? Nicht im mindesten. Was ist ein künstlerisches Volk andres als ein Volk, das seine Künstler liebt und ihre Kunst versteht? Die Athener konnten beides nicht.

Wie haben sie Phidias behandelt? Phidias verdanken wir die große Zeit, nicht nur in der griechischen, sondern in aller Kunst ich meine: da der Gebrauch des lebenden Modells aufkam.

Und was würden Sie sagen, wenn sämtliche englischen Bischöfe, hinter denen das englische Volk stünde, eines Tages von Exeter Hall zur Royal Academy zögen und Sir Frederick Leighton in einem grünen Wagen nach Newgate ins Gefängnis schafften auf die Beschuldigung hin, er habe Ihnen gestattet, lebende Modelle in Ihren Entwürfen zu religiösen Bildern zu benutzen?

Würden Sie nicht laut protestieren gegen die Barbarei und das Puritanertum einer solchen Idee? Würden Sie nicht geltend machen, dass die schlimmste Art, Gott zu ehren, darin besteht, den Menschen zu entehren, der nach seinem Bilde geschaffen und das Werk seiner Hände ist; und dass man, wenn man Christus malen will, die Christus ähnlichste Person nehmen muss, die sich finden lässt, und, wenn man die Madonna malen will, das reinste Mädchen, das man kennt?

Würden Sie nicht hinlaufen und, wenn nötig, das Gefängnis niederbrennen und sagen, ein solcher Vorgang sei ohnegleichen in der Geschichte?

Ohnegleichen? Nun, genau das taten die Athener.

In dem Saal der Parthenon-Gruppen im Britischen Museum können Sie einen Marmorschild an der Wand sehn. Darauf sind zwei Figuren: die eine die eines Mannes, dessen Gesicht halb verborgen ist, die andre die eines Mannes mit den gottähnlichen Zügen des Perikles. Dafür dass er dies getan, dass er in ein, der religiösen Geschichte Griechenlands entnommenes Basrelief das Bild des großen Staatsmannes eingeführt hat, der Athen damals beherrschte, wurde Phidias ins Gefängnis geworfen, und dort, im Kerker des athenischen Staats, starb der wundervollste Künstler der alten Welt.

Und halten Sie das für einen Ausnahmefall? Das Kennzeichen eines philiströsen Zeitalters ist der Vorwurf der Immoralität gegen die Kunst, und dieser Vorwurf wurde vom athenischen Volke gegen jeden großen Dichter und Denker seiner Zeit erhoben gegen Äschylus, Euripides, Sokrates. Ebenso war es im Florenz des dreizehnten Jahrhunderts. Die Tüchtigkeit des Handwerks ist den Gilden, nicht dem Volke zu danken. Sobald die Gilden ihre Macht verloren und das Volk aufkam, war es mit schöner, anständiger Arbeit vorbei.

Und darum reden Sie nie von einem künstlerischen Volk; dergleichen hat es nie gegeben.

Aber vielleicht werden Sie mir sagen: die äußere Schönheit der Welt ist uns fast ganz entschwunden, der Künstler wohnt nicht mehr inmitten der reizenden Umgebung, die in früheren Zeiten das natürliche Erbe jedes einzelnen war, und die Kunst ist sehr schwer in dieser unsrer reizlosen Stadt, wo man, wenn man morgens zur Arbeit geht oder abends von ihr zurückkehrt, durch eine Straße nach der andern kommt mit der törichtsten, dümmsten Architektur, die die Welt je erlebt hat; einer Architektur, in der jede reizende griechische Form entweiht und geschändet, jede reizende gotische Form entweiht und geschändet ist, so dass drei Viertel der Häuser in London lediglich zu viereckigen Kasten von den gemeinsten Größenverhältnissen geworden sind, ebenso elend wie rußig und ebenso armselig wie anspruchsvoll – die Flurtür immer falsch in der Farbe, die Fenster falsch in der Größe und wenn Sie, der Häuser überdrüssig, sich anschickten, die‘ Straße selbst zu betrachten, so gäbe es nichts für Sie zu sehn als Zylinderhüte, Männer mit Plakaten auf Brust und Rücken, zinnoberrote Briefkasten, und dabei müssten Sie noch befürchten, von einem grasgrünen Omnibus überfahren zu werden.

Hat es die Kunst nicht schwer, werden Sie mir sagen, in einer solchen Umgebung? Selbstverständlich hat sie es schwer, aber leicht hatte es die Kunst nie; Sie selbst möchten ja auch gar nicht, dass sie es leicht hat; und außerdem ist nichts der Mühe wert als das, was die Welt für unmöglich erachtet.

Sie wollen jedoch nicht bloß mit einem Paradoxon abgespeist werden. Welches sind die Beziehungen eines Künstlers zu der äußeren Welt, und was folgt für Sie aus dem Verlust einer schönen Umgebung? Das ist eine der wichtigsten Fragen der modernen Kunst; und auf keinen Punkt legt Ruskin solchen Nachdruck wie darauf, dass der Verfall der Kunst sich aus dem Verfall schöner Gegenstände ergeben hat und dass die Schönheit, wenn der Künstler sein Auge nicht an ihr weiden kann, aus seinem Werke verschwindet.

Ich erinnere mich, in einer seiner Vorlesungen entwirft er uns, nachdem er den schmutzigen Anblick einer englischen Großstadt beschrieben, ein Bild, wie sich die künstlerische Umgebung früher ausgenommen hat.

Stellt euch vor, sagt er in Worten von vollendeter, malerischer Bildkraft, deren Schönheit ich nur schwach wiederzugeben vermag, stellt euch vor, welch ein Schauspiel sich einem Zeichner der gotischen Schule – Nino Pisano oder einem seiner Gehilfen – auf seinem Nachmittagsspaziergang bot:

»Zu beiden Seiten eines leuchtenden Flusses sah er eine Reihe leuchtenderer Paläste mit Bogen und Säulen, mit tiefrotem Porphyr und Nephrit ausgelegt, emporragen; an den Kais sprengten vor ihren Toren Reitertrupps dahin, edel von Angesicht und Gestalt, mit blitzendem Helmbusch und Schild; Ross und Reiter ein einziges Labyrinth von seltsamen Farben und Lichtstrahlen – die Purpur-, Silber- und Scharlachfransen flossen über die starken Glieder und den klirrenden Panzer, wie die Wogen des Meeres über Felsen bei Sonnenuntergang. Auf beide Ufer des Flusses gingen Gärten, Höfe und Klöster hinaus; eine lange Zeile weißer Säulen im Schmucke des Weinlaubs; Fontänen sprangen zwischen blühenden Granatapfel- und Orangenbäumen; und auf den Gartenwegen, unter und zwischen dem Karminrot der Granatapfelschatten bewegten sich langsam Gruppen der schönsten Frauen, die Italien je gesehn – der schönsten, weil reinsten und gedankenvollsten, in allem hohen Wissen wie in aller höfischen Kunst zu Hause: im Tanz, Gesang, in süßem Witze, in edler Bildung, edlerem Mut, der edelsten Liebe – gleichermaßen befähigt, die Seele des Mannes zu erheitern, zu bezaubern oder zu retten. Über dieses ganze Schauspiel vollendeten menschlichen Lebens ragten Dom und Glockenturm, funkelnd in weißem Alabaster und Gold; hinter Dom und Glockenturm die Abhänge mächtiger Hügel, silbergrau von Oliven; weit im Norden, über einem Purpurmeer von Bergspitzen des feierlich ernsten Apennin sandten die klaren, scharf gespaltenen Berge Carraras ihre standhaften Flammen von marmornem Gipfel zum Bernsteinhimmel empor; die große See selbst, unter der weiten Lichtfläche schwelend, erstreckte sich von ihrem Fuße bis zu den Gorgonischen Inseln; und über all dem, ewig gegenwärtig, nah oder fern durch das Weinlaub gesehn oder mit dem Zuge der Wolken im Strome des Arno gespiegelt oder mit seinem tiefen Blau sich scharf abhebend von dem goldnen Haar und den brennenden Wangen des Ritters und der Dame – der ungetrübte, heilige Himmel, der in diesen Tagen eines unschuldigen Glaubens für alle Menschen die unbestrittene Wohnstätte der Geister war, wie die Erde die Wohnstätte der Menschen, und der durch seine Wolkentore und Tauschleier stracks in die ehrfürchtige Ewigkeit führte – ein Himmel, an dem jede vorübergleitende Wolke buchstäblich der Wagen eines Engels war und jeder Strahl seines Abends und Morgens vom Throne Gottes ausging.«

Wie gefällt Ihnen das für eine Zeichenschule?

Und nun betrachten Sie die niederschlagende, monotone Erscheinung einer modernen Stadt, die düstere Kleidung der Männer und Frauen, die nichtssagende, dürftige Architektur, die farblose, schreckliche Umgebung. Ohne ein schönes nationales Leben wird nicht allein die Plastik, werden alle Künste aussterben.

Was das religiöse Gefühl am Ende der Stelle betrifft, so brauche ich darüber wohl nicht zu sprechen. Die Religion entspringt dem religiösen Gefühl, die Kunst dem künstlerischen Gefühl; Sie bekommen nie das eine von dem andern; wenn Sie nicht die richtige Wurzel haben, können Sie nicht die richtige Blume erlangen; und wenn jemand in einer Wolke den Wagen eines Engels sieht, wird er sie wahrscheinlich einer Wolke sehr unähnlich malen.

Aber was die allgemeine Idee in der ersten Hälfte dieser allerliebsten Prosastelle anlangt: ist es wirklich wahr, dass eine schöne Umgebung für den Künstler notwendig ist? Ich glaube nicht; sicher nicht. ja, für mich ist das Unkünstlerischste in unsrer Zeit nicht die Gleichgültigkeit des Publikums gegenüber dem Schönen, sondern die Gleichgültigkeit des Künstlers gegenüber dem, was hässlich genannt wird. Denn für den echten Künstler ist nichts an sich schön oder hässlich. Mit dem Gegenstand an sich hat er nichts zu tun, sondern nur mit seinem Aussehn, und das Aussehn hängt ab von Licht und Schatten, vom Stoff, von der Stellung und vom Tonwert.

Das Aussehn ist tatsächlich bloß eine Sache des Effekts, und mit den Wirkungen der Natur haben Sie sich zu beschäftigen, nicht mit der wirklichen Beschaffenheit des Gegenstands. Was Sie als Maler zu malen haben, sind nicht Dinge, wie sie sind, sondern Dinge, wie sie zu sein scheinen, nicht Dinge, wie sie sind, sondern Dinge, wie sie nicht sind.

Kein Gegenstand ist so hässlich, dass er unter gewissen Licht- und Schattenbedingungen, durch die Berührung mit andern Dingen nicht schön aussehn kann; kein Gegenstand ist so schön, dass er unter gewissen Bedingungen nicht hässlich aussehn kann. Ich glaube, alle vierundzwanzig Stunden sieht das Schöne einmal hässlich und das Hässliche einmal schön aus.

Und die Plattheit eines großen Teils unsrer englischen Malerei scheint mir daher zu kommen, dass so viele unsrer jungen Künstler lediglich das ansehn, was man »Modeschönheit« nennen darf, während Sie als Künstler da sind, nicht um die Schönheit zu kopieren, sondern um sie in Ihrer Kunst zu schaffen, in der Natur auf sie zu warten und nach ihr auszuschaun.

Was würden Sie von einem Dramatiker sagen, der nur tugendhafte Menschen als Personen in seinem Stück auftreten lief3e? Würden Sie nicht sagen, die Hälfte des Lebens entginge ihm? Nun, von dem jungen Künstler, der nur Schönes malt, sage ich: die eine Hälfte der Welt entgeht ihm.

Warten Sie nicht darauf, dass Ihnen das Leben malerisch entgegenkommt, sondern versuchen Sie, das Leben unter malerischen Bedingungen zu sehn. Diese Bedingungen können Sie für sich im Atelier schaffen, denn es sind bloß Lichtbedingungen. In der Natur müssen Sie darauf warten, nach ihnen ausschaun, sie auslesen; und wenn Sie warten und ausschaun, kommen werden sie.

In Gower Street sehn Sie vielleicht bei Nacht einen Briefkasten, der malerisch ist; am Ufer der Themse in London sehn Sie vielleicht malerische Schutzleute. Selbst Venedig ist nicht immer schön, so wenig wie Frankreich.

Malen, was man sieht, ist eine gute Regel in der Kunst; aber sehn, was sich zu malen lohnt, ist besser. Sehn Sie das Leben unter malerischen Bedingungen! Es ist besser, in einer Stadt mit veränderlichem Wetter zu leben als in einer Stadt mit lieblicher Umgebung.

Nachdem wir nun gesehn haben, was den Künstler macht und was der Künstler macht, fragen wir: wer ist der Künstler? Unter uns lebt ein Mann, der alle Eigenschaften vornehmster Kunst in sich vereinigt, dessen Werke eine Freude für alle Zeit sind, der selbst ein Meister für alle Zeit ist. Dieser Mann ist Whistler.

Aber, werden Sie mir sagen, die moderne Kleidung, die ist schlecht. Wenn Sie nicht schwarzes Tuch malen können, hätten Sie auch nicht ein seidenes Wams fertiggebracht. Hässliche Kleidung ist besser für die Kunst – Tatsachen des Sehvermögens, nicht des Gegenstands.

Was ist ein Bild? Ursprünglich ist ein Bild eine schönfarbige Oberfläche, lediglich das, und es hat ebenso wenig eine geistige Botschaft oder Bedeutung für Sie wie ein köstliches Stück venezianisches Glas oder ein blauer Ziegel aus der Mauer von Damaskus. Es ist ursprünglich etwas rein Dekoratives, eine Augenweide.

Alle archäologischen Bilder, die Sie »wie merkwürdig!«, alle sentimentalen Bilder, die Sie »wie traurige, alle historischen Bilder, die Sie »wie interessante sagen lassen, alle Bilder, die Ihnen nicht auf der Stelle eine solche künstlerische Freude bereiten, dass sie Ihnen den Ausruf entlocken »wie schön!«, sind schlechte Bilder.

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Wir wissen nie, was ein Künstler machen wird. Natürlich nicht. Der Künstler ist kein Spezialist. Alle solche Unterscheidungen wie Tiermaler, Landschaftsmaler, Maler des schottischen Viehs in englischem Nebel, Maler des englischen Viehs in schottischem Nebel, Pferderennen-Maler, Bullterrier-Maler, alle sind seicht. Wer ein Künstler ist, kann alles malen.

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Der Zweck der Kunst ist, den göttlichsten, entlegensten der Akkorde anzuschlagen, die in unsrer Seele Musik machen; und Farbe ist an sich eine mystische Gegenwart auf der Oberfläche der Dinge und der Ton eine Art Schildwache.

Rede ich also der bloßen Technik das Wort? Nein. Solange irgendwelche Merkmale der Technik vorhanden sind, ist das Bild unfertig. Ein Bild ist fertig, wenn alle Spuren der Arbeit und der Mittel, die aufgewendet werden, um das Resultat hervorzubringen, verschwunden sind.

Bei dem Handwerker – dem Weber, dem Töpfer, dem Schmied – sind die Spuren seiner Hand auf seiner Arbeit. Aber so ist es nicht bei dem Maler; so ist es nicht bei dem Künstler.

Die Kunst soll kein Gefühl haben als ihre Schönheit, keine Technik als das, was sich nicht wahrnehmen lässt. Man soll von einem Bilde sagen können, nicht dass es »gut gemalt«, sondern dass es »nicht gemalt« ist.

Was ist der Unterschied zwischen absolut dekorativer Kunst und einem Gemälde? Die dekorative Kunst betont ihr Material; die Phantasiekunst vernichtet es. Ein Wandteppich zeigt seine Fäden als einen Teil seiner Schönheit; ein Bild vernichtet seine Leinwand, zeigt nichts davon. Porzellan betont seine Glasur; Wasserfarben lassen das Papier verschwinden.

Ein Bild hat keine andre Bedeutung als seine Schönheit, keine Botschaft als seine Freude. Das ist die erste Wahrheit in der Kunst, die Sie nie aus den Augen verlieren dürfen. Ein Bild ist etwas rein Dekoratives.