Theater als Musik

Wenn wir einer Unterhaltung in einer unbekannten Sprache zuhören, wir also nicht in der Lage sind den Inhalt aus den Worten heraus zu bestimmen, können wir meistens dennoch den Humor und den Sinn dieser Konversation erraten. Ebenso könnten wir von weit weg, hinter einer Mauer stehend, aus dem Ton der menschlichen Stimmen erkennen, ob es sich um einen Dialog, um eine Erzählung oder um eine Lesung mit lauter Stimme handelt.

Es sind die Intonation, die die Hauptrolle in der menschlichen Sprache spielen, und eine ausschlaggebende Rolle bei der Bestimmung des Sinns; sie bestimmen den exakten und wahrhaften Inhalt eines Diskurses.

Dieses Seminar richtet sich an alle, die ein Interesse daran haben, Sprechen als einen Akt, eine musikalische Handlung jenseits des Alltags auf der Bühne, neu zu entdecken.

Zeit
vom 19.3. bis 25.3., tägl. Von 11- 13.30 und 14.00 –16.30, 7 Tage insgesamt

Preis
Kosten -keine, eine Spende an den Verein wird gern gesehen.

Ort
Nikodemus
Nansenstr. 12/13
12047 Berlin-Neukölln

Anmeldung/Bewerbung
an Judith von Radetzky
info@graphit-berlin.de

Grafiken: Baptiste Hersoc (www.baptistehersoc.com)

DIALOGE ZUR KUNST – Video

DIALOGE ZUR KUNST

Platon – Ion

László Krasznahorkai – Ein Mörder wird geboren

Heinrich von Kleist – Über das Marionettenthetater

Regie Judith von Radetzky

Musik Kamil Tchalaev

Es spielen

Mathias Hörnke und Lars Jokubeit (Platon)

André Scioblowski (Krasznahorkai)

Stephan Maria Fischer und Anja Marlene Korpiun (Kleist)

Vom 11.-18. Dezember 2010 fanden fünf öffentliche Proben in den Uferstudios in Berlin-Wedding statt.

Nach dem Ansatz der Probenmethodik der Etüde, die Graphit Theater Labor erforscht, ändert sich die Arbeit der Schauspieler nicht wenn Zuschauer dazukommen. Der Spieler sucht jedesmal neu im Moment. Mit den Zuschauern wird aus einer persönlichen eine öffentliche Suche. Der Zuschauer ist dann in der gleichen Weise an der Suche im Moment beteiligt. Der Weg der Suche ist jedesmal anders. Dadurch nimmt jede Probe/Aufführung einen ganz eigenen Weg entlang der Struktur und immer wieder Neues entsteht.

Das Video zeigt Ausschnitte aus dem Dialog „Ion“ von Platon.

[youtube http://www.youtube.com/watch?v=g1AhPoESkMI&w=425&h=349]

Das Titelfoto ist ein Kunstwerk von Christoph Mause.

DIALOGE ZUR KUNST – Zuschauerkritik

Dialoge zur Kunst

am 12.12.2010

Ein kühnes Unternehmen, theoretische, wenn auch dialogisch gehaltene Texte zur Kunst in den Theater-Raum zu stellen. Und…es ist gelungen!

Sokrates und Ion fechten einen zähen Zweikampf aus. Am Ende kann man sich vorstellen, dass – wie man sich erzählt – Ion zu denen gehört, die Sokrates den Schierlingsbecher gereicht haben. Matthias Hörnke und Lars Jokubeit ziehen den Zuschauer ganz und gar in ihren Bann, lassen Gedanken Gestalt werden im Raum, lassen durch die Intensität des Spiels auf der Beziehungsebene kaum spürbar werden, dass Platons insistierende Mäeutik ziemlich entnervend ist.

An die Stelle des Goethe-Textes tritt – zum Glück – André Scioblowski mit einem inneren Monolog nach einer Erzählung des ungarischen Autors Kraznahorkai, an dessen Ende der Zuschauer mit der Figur in einem unerträglichen Gefühl von Fremdheit zu Boden geht, und das, nachdem er endlich eine einzige Tür in dieser Welt offen findet, die zu einer Ausstellung von Ikonen. Wie Kunst auch zerstörerisch sein kann, erlebt der Zuschauer in diesem Spiel von großer Intensität.

Beinahe abrupt und befreiend entführen Anja M. Korpiun und Stephan Fischer mit dem Dialog über das Marionettentheater in die Welt der Leichtigkeit und Anmut. Mit Charme und Witz vermitteln sie die Erkenntnis, „welche Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewusstsein anrichtet.“ (Kleist) Da sie doch keine Marionetten sind: ob ihr Bewusstsein wohl durch ein Unendliches gegangen ist?

Die minimalistisch eingesetzten Klänge und Töne des Musikers Kamil Tchalaev rhythmisieren, pointieren und erzeugen durchgehend eine vibrierende Spannung.

Man möchte sehr vielen Zuschauern diesen schönen Kunstgenuss im gar nicht so fernen Wedding gönnen.

Marianne Geist

DIALOGE ZUR KUNST – Kritik (Neues Deutschland)

14.12.2010

SPIEGELFECHTEREI

Der Raum in den Uferstudios erinnert an ein Klassenzimmer: Neonlicht, hoch angebrachte Fenster, Linoleumboden. Die Zuschauer sitzen entlang der Wände auf Klappstühlen, lauschen und gucken. Und versuchen nicht den Anschluss zu verlieren, denn es sind schon harte Brocken, die Regisseurin Judith von Radetzky und ihr Graphit-Theaterlabor dem Publikum da zum (geistigen) Kauen vorgeworfen haben: Anhand dreier »Dialoge zur Kunst mit Klavier und Trompete« geht das Ensemble der Frage nach, ob es möglich ist, ein Künstler zu sein.

Eine eindeutige Antwort findet der Abend nicht, zumal schnell feststeht, dass hier nicht eine fertige Inszenierung gezeigt wird, sondern eine öffentliche Probe an der Grenze zwischen Improvisation und vorgegebener Struktur. Judith von Radetzky, deren Methodik geprägt ist von der russischen Schule der Etüde, sieht ihre Produktionen im steten Wandlungsprozess begriffen und setzt auf die Kraft des Austauschs zwischen Schauspielern und Publikum – hier begleitet von avantgardistischen Trompeten- und Klavierklängen des Musikers Kamil Tchalaev.

Ursprünglich sollten die »Dialoge zur Kunst« Texte von Platon, Goethe und Kleist beinhalten. Doch da Darsteller André Scioblowski aufgrund privater Probleme wenig Zeit zum Proben blieb, wurde der Goethe-Dialoge ersetzt durch einen wunderbaren Monolog aus László Krasznahorkais Novelle »Ein Mörder wird geboren«. Eine gute Entscheidung, denn der zwischen absurder Tragikkomik und bitterem Zynismus schwankende Text des ungarischen Autors scheint dem hoch gewachsenen Scioblowski wie auf den Leib geschrieben.

Zudem holt der Funken sprühende Monolog die Zuschauer aus der Starre, in die der lange Auftakttext von Platon sie versetzt hatte. In »Ion« lässt Platon den Philosophen Sokrates mit dem kindlich-selbstzufriedenen Vortragskünstler Ion darüber diskutieren, ob Ions rhetorische und schauspielerische Fertigkeit göttlich inspiriert sind. Die beiden Darsteller agieren großartig und genießen ihre intellektuelle Spiegelfechterei sichtlich, doch ist das Streitgespräch als Einstieg schlicht zu kompliziert. Trotzdem: Wie Sokrates, den Matthias Hörnke als geistig überlegenen Künstlertyp im grauen Sakko gibt, den philosophisch unbeleckten Ion – von Lars Jokubeit dargestellt als eitler Mitte-Yuppie mit Hang zum Posieren – mehr und mehr in die Enge treibt, ist ein wunderbares Beispiel für edle Streitkultur.

Der letzte der drei »Dialoge« stammt von Kleist, dessen Essay »Über das Marionettentheater« die Grundfrage variiert, ob Gefühl oder Vernunft das Verhalten des Menschen steuert. Unübersehbar erotisch aufgeladen ist die Begegnung zwischen dem »Vernunftmenschen« Stephan Maria Fischer und der schönen Anja Marlene Korpiun als Tänzerin in geschlitztem weißen Kleid, die in der Quintessenz mündet, dass sich wahre Perfektion »nur in einer Puppe oder einem Gott« manifestiere.

Zusammen ergeben die »Dialoge zur Kunst« anspruchsvolles Theater, ästhetisch dargeboten – und passen somit gut in die Uferstudios, die sich mehr und mehr zu einer Tanz- und Theaterstätte außerhalb typischer Schubladenzuordnung entwickeln.

Anouk Meyer

LOUISE MILLERIN (2010)

LOUISE MILLERIN 
Friedrich Schiller

EINE PRODUKTION VON LOUISE MILLERIN GmbH IN KOOPERATION MIT DEM BALLHAUS OST

PREMIERE 10. FEBRUAR 2010
WEITERE VORSTELLUNGEN 13. / 14. / 26. / 27. / 28. FEBRUAR 2010

Dokumentationen zu LOUISE MILLERIN:

FOTOS        VIDEO         KRITIK #1       KRITIK #2        KRITIK #3       
ANKÜNDIGUNG#1            ANKÜNDIGUNG#2

Inhalt

Statt Kabale und Liebe: Louise Millerin. Der ursprüngliche Titel stellt die Hoffnungsträgerin des Stücks ins Zentrum. Ein Theaterabend über einen Neuanfang, über den Schlaf und über den Wachzustand. Liebe als Schlafzustand, der ins Chaos führt; Liebe als Wachzustand, in dem der Mensch nicht Opfer und nicht Konsument ist, stattdessen sich befreit aus der Trägheit seines Denkens und Fühlens.
Auf der Bühne ein Traum von Leidenschaft, und kein Wiederkäuen eines sentimentalen Status Quo. Jede Figur will ein neues oder anderes Leben. Jeder setzt halsbrecherisch alles auf eine Karte. Nicht als Moralanklage, nicht als ethisches Pamphlet, sondern als ästhetische Provokation und als Spiel.

Mit dem von ihr gegründeten Graphit-Theaterlabor und ihrer Inszenierung von Louise Millerin macht JUDITH VON RADETZKY das, was im freien Theater keiner macht: einen Klassiker in die heutige Welt zu stellen, ohne ihn zu dekonstruieren; eine Partnerschaft mit dem Autor einzugehen, die – obwohl frei und radikal – sich konsequent der Struktur des Stückes bedient; intensive Recherche und Begegnung mit dem Textmaterial im Theaterlabor; ein mehrjähriger Prozess, dessen Ziel maximale Lebendigkeit und Wahrhaftigkeit des Spiels ist; nicht eine Produktion nach der anderen herauszubringen, sondern anhand eines Stückes (Louise Millerin) ein Arbeitsmodell zu veröffentlichen. Der Radikalität der Sorgfalt dieses Ansatzes angemessen, zeigen die Vorstellungen im Februar die aktuelle Phase der Entwicklung.

mit   THERESA SOPHIE ALBERT, STEPHAN MARIA FISCHER, ANJA FLIESS, KAI ARNE JANSSEN, LARS JOKUBEIT, ANJA MARLENE KORPIUN, ANDRÉ SCIOBLOWSKI, FELIX WÜRGLER

Regie   JUDITH VON RADETZKY

Bühnenbild   URS HILDBRAND

Kostüm   GUDRUN ZÖLLNER

Dramaturgie   HEIDRUN KALETSCH

Training   THOMAS BEYSE

Produzent   HENDRIK UNGER

Regieassistenz   MIRIAM NORMANN

EINE PRODUKTION VON GRAPHIT-THEATERLABOR IN KOOPERATION MIT DEM BALLHAUS OST

GEFÖRDERT DURCH DIE STIFTUNG DEUTSCHE KLASSENLOTTERIE BERLIN UND AKT-ZENT E.V.

Fotos Annette Jonak

Phaidros (2008)

PHAIDROS
Platon – Magritte

ist eine Arbeit des Ateliers von Anatolij Vasiliev und wurde am 11.7 und 13.7. 2008 beim Festival in Avignon aufgeführt.

Dokumentationen zu PHAIDROS (Platon – Magritte):

VIDEO FOTOS

Ausschnitte aus der Aufführung

 

Inhalt

Phaidros (2.Teil) ist ein Dialog von Platon aus dem Jahre ca.370 v.Chr.

Alles beginnt auf eine sehr ungewöhnliche Art und Weise: es ist Mittag, die Sonne steht auf ihrem Zenith, Phaidros und Sokrates verlassen Athen, um unter dem Schatten einer großen Platane über die Liebe zu sprechen. Eine Quelle, die Frische der Natur, eine ideale Umgebung und der große neugierige Wunsch des Phaidros, Reden zu halten und sie zu hören. Aber die scheinbare Schönheit des  Redens stellt sich als Eloquenz, also als Sprachfertigkeit und Geschicklichkeit, heraus, geeignet, Menschen zu manipulieren. Nun ist es  die Kunst der Eloquenz, die  als der Stil schlechthin, erkannt wird. Aber was sind die Grenzen der Eloquenz, was ist der eigentliche Inhalt?  Was also ist der Unterschied zwischen dem Wahrscheinlichen und dem Authentischen…? Im Phaidros fordert Platon auf die Kunst jenseits allen Nutzens zu reflektieren…

Magritte als der paradoxeste aller Maler, bildet den Rahmen  für das Spiel der überraschenden Wendungen. Das Bild, in dem sich Phaidros und Sokrates bewegen, wird zur Falle, es erscheint als letzter, heimlicher Raum, in dem das Authentische stirbt. Und alle schauen zu. Die Berge blitzen in der Ferne. Die Schneeschmelze beginnt.

Regie

Judith von Radetzky

Schauspiel

Judith von Radetzky (Sokrates)

David Jauzion-Graverolles (Phaidros)

 

Undine geht (2004)

Undine geht
Ingeborg Bachmann

Diese Arbeit  wurde 2004 in Rosslau im Sommertheater gezeigt.

Dokumentationen zu „Undine geht“:       VIDEO

Inhalt

Die Anklage von Ingeborg Bachmann aktuell:

die Unmöglichkeit der Liebe zwischen Mann und Frau – zu viele Lügen, Kompromisse, Dummheiten.

Regie

Judith von Radetzky

Schauspiel

Heidrun Kaletsch (Undine)

Oscar Wilde: Vortrag vor den Kunststudenten (1883)

Vortrag vor Kunststudenten (1883)
Oskar Wilde

Der Vortrag, den ich die Ehre habe heut Abend vor Ihnen zu halten, soll Ihnen keine abstrakte Definition der Schönheit geben. Denn wir, die in der Kunst arbeiten, können nicht eine Theorie der Schönheit als Ersatz für die Schönheit selbst gelten lassen, und weit davon entfernt, sie in einer verstandesmäßigen Formel isolieren zu wollen, suchen wir vielmehr sie in einer Form zu materialisieren, die durch die Sinne die Seele erfreut. Wir möchten sie schaffen, nicht definieren. Die Definition soll dem Werke folgen; das Werk soll sich nicht der Definition anpassen.

Nichts fürwahr ist dem jungen Künstler so gefährlich wie irgendeine Auffassung von idealer Schönheit; sie verführt ihn beständig zu schwächlicher Niedlichkeit oder lebloser Abstraktion. Wollen Sie jedoch das Ideal erreichen, so dürfen Sie es nicht seines lebendigen Wesens entkleiden. Sie müssen es im Leben finden und in der Kunst neu schaffen.

Ich möchte Ihnen also einerseits keine Philosophie der Schönheit geben – denn was ich heut Abend vorhabe, ist: zu untersuchen, wie wir Kunst schaffen, nicht wie wir davon reden können -, andrerseits wünsche ich nicht, ein Thema wie Geschichte der englischen Kunst zu behandeln.

Zunächst bedeutet ein solcher Ausdruck wie englische Kunst nichts. Man könnte ebenso gut von englischer Mathematik sprechen. Die Kunst ist die Wissenschaft der Schönheit, und die Mathematik ist die Wissenschaft der Wahrheit; beide haben keine nationale Schule. Ja, eine nationale Schule ist lediglich eine provinziale Schule. Es gibt überhaupt nichts derartiges wie eine Schule der Kunst. Es gibt nur Künstler – weiter nichts.

Und was Kunstgeschichten betrifft, so sind sie ganz Wertlos für Sie, es sei denn, Sie strebten nach der ruhmreichen Vergessenheit einer Kunstprofessur. Es hat keinen Zweck für Sie, die Jahreszahlen Peruginos oder den Geburtsort eines Salvator Rosa zu kennen; alles, was Sie von Kunst wissen sollen, ist: ein gutes Bild zu erkennen, wenn Sie es sehn, und ein schlechtes, wenn Sie es sehn. Was die Lebenszeit des Künstlers angeht, so sicht jede gute Arbeit vollkommen modern aus: eine griechische Skulptur, ein Porträt von Velasquez – sie sind immer modern, gehören immer unsrer Zeit an. Und was die Nationalität des Künstlers betrifft, so ist die Kunst nicht national, sondern universal. Meiden Sie also die Archäologie durchaus! Die Archäologie ist lediglich die Wissenschaft, schlechte Kunst zu Entschuldigen; sie ist der Fels, an dem mancher junge Künstler scheitert und Schiffbruch leidet; sie ist der Abgrund, aus dem kein Künstler, alt oder jung, je zurückkehrt. Oder wenn er zurückkehrt, ist er so vom Staub und Moder der Zeit bedeckt, dass er als Künstler ganz unkenntlich ist und sich für den Rest seines Lebens unter dem Barett eines Professors oder als Illustrator alter Geschichte verborgen halten muss. Wie wertlos die Archäologie in der Kunst ist, können Sie daran ermessen, dass sie so populär ist. Popularität ist der Lorbeerkranz, den die Welt schlechter Kunst aufsetzt. Was populär ist, ist vom Übel.

Da ich also nicht über die Philosophie des Schönen und die Geschichte der Kunst sprechen will, werden Sie mich fragen, worüber ich denn hier sprechen möchte. Das Thema meiner heutigen Vorlesung lautet: was macht einen Künstler, und was macht der Künstler? Welches ist das Verhältnis des Künstlers zu seiner Umgebung, welche Bildung soll der Künstler empfangen, und was ist das Wesen eines guten Kunstwerks?

Zuerst ein paar Worte über das Verhältnis des Künstlers zu seiner Umgebung, worunter ich das Zeitalter und das Land verstehe, in dem er geboren ist. Alle gute Kunst hat, wie ich vorhin sagte, nichts mit einem besondern Jahrhundert zu tun; diese Universalität ist das Wesen des Kunstwerks; aber die Bedingungen, die dieses Wesen erzeugen, sind verschieden. Sie sollten, meiner Ansicht nach, Ihre Zeit völlig begreifen, um sich völlig von ihr zu abstrahieren. Bedenken Sie, dass, wenn Sie überhaupt Künstler sind, Sie nicht das Mundstück eines Jahrhunderts, sondern Herr der Ewigkeit sein werden; dass alle Kunst auf einem Grundsatz beruht, und dass rein zeitliche Erwägungen überhaupt kein Grundsatz sind; und dass die, welche Ihnen raten, in Ihrer Kunst das neunzehnte Jahrhundert zu spiegeln, Ihnen den Rat geben, eine Kunst zu schaffen, die Ihre Kinder, wenn Sie welche haben, für altmodisch halten. Aber Sie werden mir sagen: dies ist eine unkünstlerische Zeit, und wir sind ein unkünstlerisches Volk, und der Künstler leidet sehr in diesem unserm neunzehnten Jahrhundert.

Natürlich leidet er. Ich leugne das am allerwenigsten. Aber bedenken Sie: es hat nie eine künstlerische Zeit, nie ein künstlerisches Volk gegeben, seitdem die Welt steht. Der Künstler ist immer eine auserlesene Ausnahme gewesen und wird es immer sein. Es gibt kein goldenes Zeitalter der Kunst – nur Künstler, die geschaffen haben, was goldener ist als Gold.

Aber wie, werden Sie mir einwenden, verhält es sich mit den Griechen? Waren sie nicht ein künstlerisches Volk?

Nun, die Griechen sicher nicht, aber vielleicht meinen Sie die Athener, die Bürger einer einzigen Stadt unter tausenden.

Halten Sie die Athener für ein künstlerisches Volk? Betrachten wir sie zur Zeit ihrer höchsten künstlerischen Blüte in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts v. Chr., als sie die größten Dichter und die größten Künstler der alten Welt hatten, als der Parthenon auf Geheiß eines Phidias in seiner Anmut erstand, als der Philosoph im Schatten der gemalten Säulenhalle Weisheit lehrte und die Tragödie in hehrer Hoheit über die marmorne Bühne zog. Waren sie damals ein künstlerisches Volk? Nicht im mindesten. Was ist ein künstlerisches Volk andres als ein Volk, das seine Künstler liebt und ihre Kunst versteht? Die Athener konnten beides nicht.

Wie haben sie Phidias behandelt? Phidias verdanken wir die große Zeit, nicht nur in der griechischen, sondern in aller Kunst ich meine: da der Gebrauch des lebenden Modells aufkam.

Und was würden Sie sagen, wenn sämtliche englischen Bischöfe, hinter denen das englische Volk stünde, eines Tages von Exeter Hall zur Royal Academy zögen und Sir Frederick Leighton in einem grünen Wagen nach Newgate ins Gefängnis schafften auf die Beschuldigung hin, er habe Ihnen gestattet, lebende Modelle in Ihren Entwürfen zu religiösen Bildern zu benutzen?

Würden Sie nicht laut protestieren gegen die Barbarei und das Puritanertum einer solchen Idee? Würden Sie nicht geltend machen, dass die schlimmste Art, Gott zu ehren, darin besteht, den Menschen zu entehren, der nach seinem Bilde geschaffen und das Werk seiner Hände ist; und dass man, wenn man Christus malen will, die Christus ähnlichste Person nehmen muss, die sich finden lässt, und, wenn man die Madonna malen will, das reinste Mädchen, das man kennt?

Würden Sie nicht hinlaufen und, wenn nötig, das Gefängnis niederbrennen und sagen, ein solcher Vorgang sei ohnegleichen in der Geschichte?

Ohnegleichen? Nun, genau das taten die Athener.

In dem Saal der Parthenon-Gruppen im Britischen Museum können Sie einen Marmorschild an der Wand sehn. Darauf sind zwei Figuren: die eine die eines Mannes, dessen Gesicht halb verborgen ist, die andre die eines Mannes mit den gottähnlichen Zügen des Perikles. Dafür dass er dies getan, dass er in ein, der religiösen Geschichte Griechenlands entnommenes Basrelief das Bild des großen Staatsmannes eingeführt hat, der Athen damals beherrschte, wurde Phidias ins Gefängnis geworfen, und dort, im Kerker des athenischen Staats, starb der wundervollste Künstler der alten Welt.

Und halten Sie das für einen Ausnahmefall? Das Kennzeichen eines philiströsen Zeitalters ist der Vorwurf der Immoralität gegen die Kunst, und dieser Vorwurf wurde vom athenischen Volke gegen jeden großen Dichter und Denker seiner Zeit erhoben gegen Äschylus, Euripides, Sokrates. Ebenso war es im Florenz des dreizehnten Jahrhunderts. Die Tüchtigkeit des Handwerks ist den Gilden, nicht dem Volke zu danken. Sobald die Gilden ihre Macht verloren und das Volk aufkam, war es mit schöner, anständiger Arbeit vorbei.

Und darum reden Sie nie von einem künstlerischen Volk; dergleichen hat es nie gegeben.

Aber vielleicht werden Sie mir sagen: die äußere Schönheit der Welt ist uns fast ganz entschwunden, der Künstler wohnt nicht mehr inmitten der reizenden Umgebung, die in früheren Zeiten das natürliche Erbe jedes einzelnen war, und die Kunst ist sehr schwer in dieser unsrer reizlosen Stadt, wo man, wenn man morgens zur Arbeit geht oder abends von ihr zurückkehrt, durch eine Straße nach der andern kommt mit der törichtsten, dümmsten Architektur, die die Welt je erlebt hat; einer Architektur, in der jede reizende griechische Form entweiht und geschändet, jede reizende gotische Form entweiht und geschändet ist, so dass drei Viertel der Häuser in London lediglich zu viereckigen Kasten von den gemeinsten Größenverhältnissen geworden sind, ebenso elend wie rußig und ebenso armselig wie anspruchsvoll – die Flurtür immer falsch in der Farbe, die Fenster falsch in der Größe und wenn Sie, der Häuser überdrüssig, sich anschickten, die‘ Straße selbst zu betrachten, so gäbe es nichts für Sie zu sehn als Zylinderhüte, Männer mit Plakaten auf Brust und Rücken, zinnoberrote Briefkasten, und dabei müssten Sie noch befürchten, von einem grasgrünen Omnibus überfahren zu werden.

Hat es die Kunst nicht schwer, werden Sie mir sagen, in einer solchen Umgebung? Selbstverständlich hat sie es schwer, aber leicht hatte es die Kunst nie; Sie selbst möchten ja auch gar nicht, dass sie es leicht hat; und außerdem ist nichts der Mühe wert als das, was die Welt für unmöglich erachtet.

Sie wollen jedoch nicht bloß mit einem Paradoxon abgespeist werden. Welches sind die Beziehungen eines Künstlers zu der äußeren Welt, und was folgt für Sie aus dem Verlust einer schönen Umgebung? Das ist eine der wichtigsten Fragen der modernen Kunst; und auf keinen Punkt legt Ruskin solchen Nachdruck wie darauf, dass der Verfall der Kunst sich aus dem Verfall schöner Gegenstände ergeben hat und dass die Schönheit, wenn der Künstler sein Auge nicht an ihr weiden kann, aus seinem Werke verschwindet.

Ich erinnere mich, in einer seiner Vorlesungen entwirft er uns, nachdem er den schmutzigen Anblick einer englischen Großstadt beschrieben, ein Bild, wie sich die künstlerische Umgebung früher ausgenommen hat.

Stellt euch vor, sagt er in Worten von vollendeter, malerischer Bildkraft, deren Schönheit ich nur schwach wiederzugeben vermag, stellt euch vor, welch ein Schauspiel sich einem Zeichner der gotischen Schule – Nino Pisano oder einem seiner Gehilfen – auf seinem Nachmittagsspaziergang bot:

»Zu beiden Seiten eines leuchtenden Flusses sah er eine Reihe leuchtenderer Paläste mit Bogen und Säulen, mit tiefrotem Porphyr und Nephrit ausgelegt, emporragen; an den Kais sprengten vor ihren Toren Reitertrupps dahin, edel von Angesicht und Gestalt, mit blitzendem Helmbusch und Schild; Ross und Reiter ein einziges Labyrinth von seltsamen Farben und Lichtstrahlen – die Purpur-, Silber- und Scharlachfransen flossen über die starken Glieder und den klirrenden Panzer, wie die Wogen des Meeres über Felsen bei Sonnenuntergang. Auf beide Ufer des Flusses gingen Gärten, Höfe und Klöster hinaus; eine lange Zeile weißer Säulen im Schmucke des Weinlaubs; Fontänen sprangen zwischen blühenden Granatapfel- und Orangenbäumen; und auf den Gartenwegen, unter und zwischen dem Karminrot der Granatapfelschatten bewegten sich langsam Gruppen der schönsten Frauen, die Italien je gesehn – der schönsten, weil reinsten und gedankenvollsten, in allem hohen Wissen wie in aller höfischen Kunst zu Hause: im Tanz, Gesang, in süßem Witze, in edler Bildung, edlerem Mut, der edelsten Liebe – gleichermaßen befähigt, die Seele des Mannes zu erheitern, zu bezaubern oder zu retten. Über dieses ganze Schauspiel vollendeten menschlichen Lebens ragten Dom und Glockenturm, funkelnd in weißem Alabaster und Gold; hinter Dom und Glockenturm die Abhänge mächtiger Hügel, silbergrau von Oliven; weit im Norden, über einem Purpurmeer von Bergspitzen des feierlich ernsten Apennin sandten die klaren, scharf gespaltenen Berge Carraras ihre standhaften Flammen von marmornem Gipfel zum Bernsteinhimmel empor; die große See selbst, unter der weiten Lichtfläche schwelend, erstreckte sich von ihrem Fuße bis zu den Gorgonischen Inseln; und über all dem, ewig gegenwärtig, nah oder fern durch das Weinlaub gesehn oder mit dem Zuge der Wolken im Strome des Arno gespiegelt oder mit seinem tiefen Blau sich scharf abhebend von dem goldnen Haar und den brennenden Wangen des Ritters und der Dame – der ungetrübte, heilige Himmel, der in diesen Tagen eines unschuldigen Glaubens für alle Menschen die unbestrittene Wohnstätte der Geister war, wie die Erde die Wohnstätte der Menschen, und der durch seine Wolkentore und Tauschleier stracks in die ehrfürchtige Ewigkeit führte – ein Himmel, an dem jede vorübergleitende Wolke buchstäblich der Wagen eines Engels war und jeder Strahl seines Abends und Morgens vom Throne Gottes ausging.«

Wie gefällt Ihnen das für eine Zeichenschule?

Und nun betrachten Sie die niederschlagende, monotone Erscheinung einer modernen Stadt, die düstere Kleidung der Männer und Frauen, die nichtssagende, dürftige Architektur, die farblose, schreckliche Umgebung. Ohne ein schönes nationales Leben wird nicht allein die Plastik, werden alle Künste aussterben.

Was das religiöse Gefühl am Ende der Stelle betrifft, so brauche ich darüber wohl nicht zu sprechen. Die Religion entspringt dem religiösen Gefühl, die Kunst dem künstlerischen Gefühl; Sie bekommen nie das eine von dem andern; wenn Sie nicht die richtige Wurzel haben, können Sie nicht die richtige Blume erlangen; und wenn jemand in einer Wolke den Wagen eines Engels sieht, wird er sie wahrscheinlich einer Wolke sehr unähnlich malen.

Aber was die allgemeine Idee in der ersten Hälfte dieser allerliebsten Prosastelle anlangt: ist es wirklich wahr, dass eine schöne Umgebung für den Künstler notwendig ist? Ich glaube nicht; sicher nicht. ja, für mich ist das Unkünstlerischste in unsrer Zeit nicht die Gleichgültigkeit des Publikums gegenüber dem Schönen, sondern die Gleichgültigkeit des Künstlers gegenüber dem, was hässlich genannt wird. Denn für den echten Künstler ist nichts an sich schön oder hässlich. Mit dem Gegenstand an sich hat er nichts zu tun, sondern nur mit seinem Aussehn, und das Aussehn hängt ab von Licht und Schatten, vom Stoff, von der Stellung und vom Tonwert.

Das Aussehn ist tatsächlich bloß eine Sache des Effekts, und mit den Wirkungen der Natur haben Sie sich zu beschäftigen, nicht mit der wirklichen Beschaffenheit des Gegenstands. Was Sie als Maler zu malen haben, sind nicht Dinge, wie sie sind, sondern Dinge, wie sie zu sein scheinen, nicht Dinge, wie sie sind, sondern Dinge, wie sie nicht sind.

Kein Gegenstand ist so hässlich, dass er unter gewissen Licht- und Schattenbedingungen, durch die Berührung mit andern Dingen nicht schön aussehn kann; kein Gegenstand ist so schön, dass er unter gewissen Bedingungen nicht hässlich aussehn kann. Ich glaube, alle vierundzwanzig Stunden sieht das Schöne einmal hässlich und das Hässliche einmal schön aus.

Und die Plattheit eines großen Teils unsrer englischen Malerei scheint mir daher zu kommen, dass so viele unsrer jungen Künstler lediglich das ansehn, was man »Modeschönheit« nennen darf, während Sie als Künstler da sind, nicht um die Schönheit zu kopieren, sondern um sie in Ihrer Kunst zu schaffen, in der Natur auf sie zu warten und nach ihr auszuschaun.

Was würden Sie von einem Dramatiker sagen, der nur tugendhafte Menschen als Personen in seinem Stück auftreten lief3e? Würden Sie nicht sagen, die Hälfte des Lebens entginge ihm? Nun, von dem jungen Künstler, der nur Schönes malt, sage ich: die eine Hälfte der Welt entgeht ihm.

Warten Sie nicht darauf, dass Ihnen das Leben malerisch entgegenkommt, sondern versuchen Sie, das Leben unter malerischen Bedingungen zu sehn. Diese Bedingungen können Sie für sich im Atelier schaffen, denn es sind bloß Lichtbedingungen. In der Natur müssen Sie darauf warten, nach ihnen ausschaun, sie auslesen; und wenn Sie warten und ausschaun, kommen werden sie.

In Gower Street sehn Sie vielleicht bei Nacht einen Briefkasten, der malerisch ist; am Ufer der Themse in London sehn Sie vielleicht malerische Schutzleute. Selbst Venedig ist nicht immer schön, so wenig wie Frankreich.

Malen, was man sieht, ist eine gute Regel in der Kunst; aber sehn, was sich zu malen lohnt, ist besser. Sehn Sie das Leben unter malerischen Bedingungen! Es ist besser, in einer Stadt mit veränderlichem Wetter zu leben als in einer Stadt mit lieblicher Umgebung.

Nachdem wir nun gesehn haben, was den Künstler macht und was der Künstler macht, fragen wir: wer ist der Künstler? Unter uns lebt ein Mann, der alle Eigenschaften vornehmster Kunst in sich vereinigt, dessen Werke eine Freude für alle Zeit sind, der selbst ein Meister für alle Zeit ist. Dieser Mann ist Whistler.

Aber, werden Sie mir sagen, die moderne Kleidung, die ist schlecht. Wenn Sie nicht schwarzes Tuch malen können, hätten Sie auch nicht ein seidenes Wams fertiggebracht. Hässliche Kleidung ist besser für die Kunst – Tatsachen des Sehvermögens, nicht des Gegenstands.

Was ist ein Bild? Ursprünglich ist ein Bild eine schönfarbige Oberfläche, lediglich das, und es hat ebenso wenig eine geistige Botschaft oder Bedeutung für Sie wie ein köstliches Stück venezianisches Glas oder ein blauer Ziegel aus der Mauer von Damaskus. Es ist ursprünglich etwas rein Dekoratives, eine Augenweide.

Alle archäologischen Bilder, die Sie »wie merkwürdig!«, alle sentimentalen Bilder, die Sie »wie traurige, alle historischen Bilder, die Sie »wie interessante sagen lassen, alle Bilder, die Ihnen nicht auf der Stelle eine solche künstlerische Freude bereiten, dass sie Ihnen den Ausruf entlocken »wie schön!«, sind schlechte Bilder.

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Wir wissen nie, was ein Künstler machen wird. Natürlich nicht. Der Künstler ist kein Spezialist. Alle solche Unterscheidungen wie Tiermaler, Landschaftsmaler, Maler des schottischen Viehs in englischem Nebel, Maler des englischen Viehs in schottischem Nebel, Pferderennen-Maler, Bullterrier-Maler, alle sind seicht. Wer ein Künstler ist, kann alles malen.

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Der Zweck der Kunst ist, den göttlichsten, entlegensten der Akkorde anzuschlagen, die in unsrer Seele Musik machen; und Farbe ist an sich eine mystische Gegenwart auf der Oberfläche der Dinge und der Ton eine Art Schildwache.

Rede ich also der bloßen Technik das Wort? Nein. Solange irgendwelche Merkmale der Technik vorhanden sind, ist das Bild unfertig. Ein Bild ist fertig, wenn alle Spuren der Arbeit und der Mittel, die aufgewendet werden, um das Resultat hervorzubringen, verschwunden sind.

Bei dem Handwerker – dem Weber, dem Töpfer, dem Schmied – sind die Spuren seiner Hand auf seiner Arbeit. Aber so ist es nicht bei dem Maler; so ist es nicht bei dem Künstler.

Die Kunst soll kein Gefühl haben als ihre Schönheit, keine Technik als das, was sich nicht wahrnehmen lässt. Man soll von einem Bilde sagen können, nicht dass es »gut gemalt«, sondern dass es »nicht gemalt« ist.

Was ist der Unterschied zwischen absolut dekorativer Kunst und einem Gemälde? Die dekorative Kunst betont ihr Material; die Phantasiekunst vernichtet es. Ein Wandteppich zeigt seine Fäden als einen Teil seiner Schönheit; ein Bild vernichtet seine Leinwand, zeigt nichts davon. Porzellan betont seine Glasur; Wasserfarben lassen das Papier verschwinden.

Ein Bild hat keine andre Bedeutung als seine Schönheit, keine Botschaft als seine Freude. Das ist die erste Wahrheit in der Kunst, die Sie nie aus den Augen verlieren dürfen. Ein Bild ist etwas rein Dekoratives.

LOUISE MILLERIN / Neues Deutschland-Kritik

25.02.2010
STURM UND DRANG IM THEATERLABOR
Friedrich Schillers »Louise Millerin« wurde minimalistisch und kraftvoll am Ballhaus Ost inszeniert

Zwei Stühle und drei halbtransparente Stellwände, mehr Bühnenbild ist nicht. Während das Deutsche Theater die Protagonisten in Schillers »Kabale und Liebe« in und an einem hölzernen Kasten mit unzähligen Türen herumturnen lässt, herrscht bei der Inszenierung des selben Stücks im Ballhaus Ost Minimalismus pur. Unter dem ursprünglichen Titel »Louise Millerin« erzählt Regisseurin Judith von Radetzky den Klassiker als leidenschaftliches Sturm- und Drangstück mit komischen Momenten.
Mit dem 4. Stock des Ballhaus’ Ost, wo es keine Bühne gibt und kein Podest, sondern die Schauspieler direkt vor den Zuschauern agieren, haben sich Judith von Radetzky und ihr Graphit-Theaterlabor für einen intimen Rahmen entschieden, der kaum Abstand zulässt. Umso intensiver wirkt das kraftvolle, körperbetonte Spiel der Darsteller, die gute drei Stunden lang die abgewetzten Dielen mit energischen Schritten, verliebtem Getänzel, Freudensprüngen und hasserfülltem Kampf zum Knarren bringen.
»Maximale Lebendigkeit und Wahrhaftigkeit des Spiels« strebt die Truppe an, die sich als Labor im eigentlichen Sinne versteht: Gründliche Recherchen und langes Experimentieren während der Proben gingen der Aufführung voraus, die durchaus weitere Änderungen erfahren kann – jede Vorstellung soll die aktuelle Entwicklungsphase zeigen.
Das klingt recht trocken, doch dieser Vorwurf wäre ungerecht. Ganz im Gegenteil, hat die Schauspielerin und Regisseurin Judith von Radetzky mit »Louise Millerin« ein temporeiches, szenisch gut durchdachtes und originelles Bühnenstück inszeniert, das geschickt mit den Mitteln sowohl der Ironie und Übertreibung spielt als auch mit Kontrasten und Brüchen. So sind Frisuren, Kleidung und Gestik der Darsteller ganz von heute, während Schillers Sprache unverändert bleibt.
Man merkt den acht Darstellern an, dass sie sich im Schillerschen Duktus zu Hause fühlen. Frisch und wie improvisiert wirken die ab und zu eingestreuten Anspielungen auf aktuelle Ereignisse – so darf Hofmarschall von Kalb seinen Reitunfall auf die »wieder nicht gestreuten Wege« zurückführen, und um Louise unter Druck zu setzen, wird ihr Vater kurzerhand wegen Steuerhinterziehung eingekerkert.
Felix Würgler spielt diesen Vater, einen angesehenen Stadtmusiker, mit gesunder Skepsis und aufbrausendem Temperament seiner schwatzhaften Frau (Anja Fliess) gegenüber. Theresa Sophie Albert gibt die Titel gebende Bürgerstochter Louise als naive Blondine mit festem Charakter. Die Liebe zwischen ihr und dem Adeligen Ferdinand stürzt sie in heftige Gefühlswallungen und birgt Vorahnungen von drohendem Unheil.
Verkörpert wird dieses durch ein intrigantes Trio, das aus unterschiedlichen Gründen eine Heirat zwischen Louise und Ferdinand verhindern will: André Scioblowski als berechnend-fieser Sekretarius Wurm, Lars Jokubeit als Hofmarschall mit Musterknaben-Scheitel und der großartige Stephan Maria Fischer als machtgieriger, mit allen Wassern gewaschener Präsident, der seinen Sohn mit der herzoglichen Mätresse Lady Milford verheiraten will.
Ein egozentrischer, sehr von sich überzeugter Geck mit Freddy-Mercury-Schnurrbart, Panamahut und weißem Seidenschal ist Kai Arne Janssens Ferdinand, während Anja Marlene Korpiun eine ebenso eitle wie leidenschaftlichüberdrehte Lady Milford abgibt. Die Szene, in der die brünette Schönheit im pfirsichfarbenen Seidenanzug Ferdinand ihren Lebensweg schildert und beide zu Tränen gerührt sind von ihrer Tapferkeit und Güte, gehört zu den Höhepunkten des Stücks.
Hie und da hat die 3-Stunden-Produktion ihre Längen, doch wie das kleine Ensemble es hinbekommen hat, das biedere Trauerspiel aus dem Deutschunterricht zu entstauben und ihm Witz und Komik zu entlocken, ist wirklich sehenswert.

Anouk Meyer
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